Die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs in der Abteilung Oldenburg (im Folgenden: NLA OL) bieten ideale Voraussetzungen für ein Editionsprojekt zur Psychiatriegeschichte des 19. Jahrhunderts: Hier ist zum einen das einschlägige Behördenschriftgut zur staatlich organisierten „Irrenfürsorge“ des Herzogtums Oldenburg nahezu vollständig archiviert. Auf der zentralen Verwaltungsebene sind dies insbesondere Akten zum Kloster Blankenburg, das seit dem späten 18. Jahrhundert vornehmlich als Irrenverwahranstalt genutzt swurde, und zur 1858 neu eröffneten staatlichen Irrenheilanstalt zu Wehnen. Dabei ist nicht nur der Gründungsprozess der Anstalt in Wehnen ausgesprochen dicht dokumentiert (vgl. Lüders 1987, Maeder 1991), sondern über den gesamten Untersuchungszeitraum auch deren interne Organisation über Inventar-, Wirtschafts- und vor allem auch Personalakten, die sämtliche Akteure vom Anstaltsdirektor über das weitere medizinische Personal bis hin zu Lehrern, Wärter*innen, Verwaltern oder Seelsorgern betreffen. Darüber hinaus verwahrt das NLA OL die interne archivalische Überlieferung der Irrenheilanstalt bzw. des Landeskrankenhauses Wehnen von der Gründung bis ins Jahr 2004, darunter gut 13.000 Patient*innenakten. Hinzu kommt eine ausgesprochen heterogene, aber über das Archivinformationssystem „Arcinsys Niedersachsen und Bremen“ gut erschlossene Überlieferung auf der zentralen Regierungsebene wie auch auf der lokalen Ebene der einzelnen Ämter des Herzogtums, wo sich einschlägige Akten an ganz verschiedenen Stellen finden können – beispielsweise in der Überlieferung der Medizinal- und Sittenpolizei, bei den lokalen Institutionen der Armenfürsorge oder unter den Gnadensachen der verschiedenen Regierungsressorts. Einzelne Fallgeschichten lassen sich häufig quer über viele verschiedene Bestände nachverfolgen und dann teils in erstaunlicher Dichte rekonstruieren.
Lüders 1987: Jürgen Lüders, Zur Entstehung und Entwicklung ausgrenzender Institutionen – am Beispiel der „Irrenheilanstalt zu Wehnen“ (1845 bis 1868), Diplomarbeit Universität Oldenburg 1987, NLA OL Slg 10 Best. 297 F Nr. 39.
Maeder 1991: Christel Maeder, Gründungsgeschichte des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Wehnen bei Oldenburg, Bad Zwischenahn 1991.
Die digitale Edition bietet im Gegensatz zur klassischen Quellenedition in Buchform die Möglichkeit einer nicht-linearen Präsentationsform, was im vorliegenden Fall der grundlegenden Ambivalenz des Untersuchungsgegenstands besonders angemessen ist. Es werden zwei Zugangsperspektiven auf das ausgewählte Material kombiniert, nämlich zum einen die „Betroffenenperspektive“ durch die möglichst dichte Dokumentation exemplarischer Fallgeschichten und zum anderen die institutionelle Perspektive der Anstalten und involvierten Behörden. Dieser doppelte Zugriff basiert auf der grundlegenden Einsicht der jüngsten Forschung, dass keine der beiden Perspektiven allein ausreicht, um die Psychiatriegeschichte adäquat zu dokumentieren: So kann der rein institutionengeschichtliche Zugriff die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen bestenfalls indirekt erfassen und birgt dazu das Risiko, geistig differente Personen von vornherein auf ihren Status als „Patienten“ zu reduzieren und sie zudem zu passiven „Empfängern“ medizinischer und institutioneller Fürsorgeleistungen zu degradieren. Eine reine Sammlung von Fallgeschichten liefe dagegen gerade im digitalen Medium Gefahr, die Lebensgeschichten betroffener Menschen als „Patientenschicksale“ weitgehend losgelöst aus ihrem soziokulturellen Kontext zu präsentieren und sie damit am Ende – ethisch hoch problematisch – als ahistorische „Kuriositätensammlung“ rezipierbar zu machen.
Das Material wird in einer Weise präsentiert, die es den Nutzer*innen ermöglicht, immer zwischen beiden Perspektiven zu wechseln und so die soziale Logik des Umgangs mit geistig differenten Menschen in ihrer Komplexität und Ambivalenz zwischen medizinischer Kategorisierung, staatlicher Verwaltung und soziokultureller Praxis nachzuvollziehen. Da die Quellenauswahl dabei primär durch die Rekonstruktion der Fallgeschichten bestimmt wird, werden damit auch solche Quellen für die psychiatriehistorische Forschung erschlossen, die bislang selten betrachtet wurden, weil sie nicht unmittelbar dem institutionellen Kontext psychiatrischer Anstalten entstammen.
In der Kategorie der „Betroffenenperspektive“ sollen zehn Fallgeschichten aus der Zeit von ca. 1775 bis 1875 möglichst vollständig durch archivalische Quellen dokumentiert und in ausführlichen Sachkommentaren erschlossen werden.
In der Kategorie „Institutionenperspektive“ sollen komplementär dazu ausgewählte, besonders wichtige institutionenbezogene Grundlagentexte ausgewählt werden, die das behördliche und professionelle Handeln dokumentieren und die für das Verständnis der Entscheidungsprozesse und der Organisation der zuständigen Institutionen besonders relevant sind. Dazu zählen insbesondere Anstaltsordnungen und -statuten, Verfügungen zu Ausstattung und Personal, Dienstanweisungen und Instruktionen für das Personal sowie die regelmäßigen Berichte der Leiter der beiden staatlichen Anstalten Wehnen und Blankenburg. Daneben stehen zentrale außerinstitutionelle Texte (etwa Gesetzesentwürfe) sowie zeitgenössische Zustandsberichte über die Institutionen, die zur Entwicklung der Psychiatrie im Herzogtum Oldenburg beitrugen.
Gemäß der doppelten Zugangsperspektive der geplanten Edition werden die einzelnen Dokumente in der Regel nicht nur im Kontext einer individuellen Fallgeschichte präsentiert, sondern zugleich auch dem entsprechenden Kapitel der „Institutionenperspektive“ zugeordnet. Damit bilden die Fallgeschichten zugleich ein maßgebliches Auswahlkriterium für die Quellenpräsentation zur Institutionengeschichte.
Die Datenerfassung und Texterschließung sowie die Erstellung der digitalen Edition erfolgen über die an der Universität Trier entwickelte virtuelle Forschungsumgebung für die Geisteswissenschaften FuD. Die technische Umsetzung wird dabei vom Servicezentrum eScience unterstützt.
https://fud.uni-trier.de/
• Vogel, Christine: Jenseits der Anstalt. Zum Umgang mit geistig differenten und psychisch kranken Menschen im 19. Jahrhundert. Beispiele aus Südoldenburg, in: Bölsker, Franz u.a. (Hg.): Dona Historica. Freundesgaben für Alwin Hanschmidt zum 80. Geburtstag, Berlin u.a. 2017, S. 255-275.
• Ausstellungsheft „Gemüthskrank und gefährlich wüthend“: Schicksale psychisch kranker Menschen auf dem Land im 19. Jahrhundert: ein Ausstellungsprojekt von Studierenden des Fachs Geschichtswissenschaft der Universität Vechta in Kooperation mit dem Museum Vechta und Museumsdorf Cloppenburg, hg. v. Museum Vechta, Stadt Vechta, Museumsdorf Cloppenburg, Vechta/Cloppenburg 2018.
Mitarbeitende an der Universität Vechta:
• Prof. Dr. Christine Vogel (Projektleitung)
• Sophie Große, M.A. (Projektmitarbeiterin)
• Laura Rehmann, M.A. (wissenschaftliche Hilfskraft)
Kooperationspartner:
Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Oldenburg
Servicezentrum eSciences, Universität Trier