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Zwischen Fürsorge und Zwang. Digitale Quellenedition zur Psychiatriegeschichte des Herzogtums Oldenburg

 

Laufzeit: 15.02.2023 bis 14.02.2026

Förderkennzeichen: 76ZN2014

Förderung durch: Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK), gefördert durch Mittel aus SPRUNG

Fördersumme (€): 249.660

 

Zur kulturellen Vielfalt Niedersachsens gehört ganz wesentlich auch die wechselvolle Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit „Behinderung“, also körperlicher und geistiger Differenz. Neuere Forschungen zur Psychiatriegeschichte bzw. disability history haben gezeigt, dass die Praktiken des Umgangs mit geistig differenten und psychisch kranken Menschen von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Fürsorge und Zwang gekennzeichnet sind und weitreichende Rückschlüsse auf soziale Normen und politische Machtverhältnisse erlauben. Gegenwärtige Debatten um Inklusion stehen dabei im Zeichen einer regionalen und nationalen Erinnerungskultur, die – zu Recht – von der Zeit der NS-Patientenmorde geprägt ist. Die historische Tiefendimension ist dabei allerdings zumeist nur schlecht beleuchtet, was nicht zuletzt an der mitunter problematischen Überlieferungssituation zur Psychiatriegeschichte liegt. 

In niedersächsischen Archiven zeugen zahlreiche Dokumente aus unterschiedlichen Beständen vom Umgang früherer Generationen mit geistig differenten und psychisch kranken Menschen. Zentral ist hier die Überlieferung zu den Heil- und Pflegeanstalten bzw. Landeskrankenhäusern. Der Oldenburger Raum sticht dabei besonders hervor, da hier nicht nur einschlägige Bestände zur 1858 gegründeten Heil- und Pflegeangstalt Wehnen (heute Karl-Jaspers-Klinik) nahezu lückenlos erhalten sind, sondern auch solche zu der älteren „Verwahranstalt“ im Kloster Blankenburg. Gleichzeitig ist eine psychiatriehistorische Forschung zum Herzogtum Oldenburg – und damit zum Nordwesten Niedersachsens im 19. Jahrhundert – praktisch nicht existent. Das ist umso erstaunlicher, als der Gründungsdirektor und langjährige Leiter der Irrenheilanstalt Wehnen, Dr. Franz Anton Ludwig Kelp (1809-1891), durchaus zu den renommierteren Vertretern seines Fachs gehörte, zahlreiche Publikationen in den einschlägigen Fachorganen vorgelegt hat und 1862 sogar zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie gewählt wurde. 

Als Kooperationsprojekt zwischen der Universität Vechta und dem Niedersächsischen Landesarchiv setzt das Projekt „Zwischen Fürsorge und Zwang“ genau hier an: Ziel ist es, auf der Grundlage der Überlieferung des Niedersächsischen Landesarchivs eine digitale Quellenedition zur Psychiatriegeschichte des Herzogtums Oldenburg im 19. Jahrhundert zu erstellen, die der grundlegenden Ambivalenz des Untersuchungsgegenstands durch die Auswahl der Quellen und die Form der Präsentation gerecht wird. Quellenauswahl und umfangreiche Sachkommentare tragen dabei nicht nur der Vielschichtigkeit und Komplexität der einschlägigen Überlieferung Rechnung. Sie helfen auch, relevante Archivbestände nicht nur für die Fachwissenschaft, sondern auch für weitere Nutzer*innenkreise zu erschließen und die Edition etwa auch als pädagogische Ressource für den Schulunterricht und die universitäre Lehre nutzbar zu machen. 

Durch die Einbeziehung von citizen science-Elementen in die Projektdurchführung wird darüber hinaus eine enge Verzahnung mit der (lokalen) interessierten Öffentlichkeit ermöglicht. So soll das Projekt den aktuellen öffentlichen Debatten um Inklusion und Diversität sowie der primär von den NS-Verbrechen geprägten lokalen wie überregionalen Erinnerungskultur eine historische Tiefendimension hinzufügen.  

Abbildung: Bericht vom 22. Juli 1845 über die Notwendigkeit einer zu errichtenden Irrenheilanstalt, NLA OL, Best. 70, Nr. 2702-1.


Die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs in der Abteilung Oldenburg (im Folgenden: NLA OL) bieten ideale Voraussetzungen für ein Editionsprojekt zur Psychiatriegeschichte des 19. Jahrhunderts: Hier ist zum einen das einschlägige Behördenschriftgut zur staatlich organisierten „Irrenfürsorge“ des Herzogtums Oldenburg nahezu vollständig archiviert. Auf der zentralen Verwaltungsebene sind dies insbesondere Akten zum Kloster Blankenburg, das seit dem späten 18. Jahrhundert vornehmlich als Irrenverwahranstalt genutzt swurde, und zur 1858 neu eröffneten staatlichen Irrenheilanstalt zu Wehnen. Dabei ist nicht nur der Gründungsprozess der Anstalt in Wehnen ausgesprochen dicht dokumentiert (vgl. Lüders 1987, Maeder 1991), sondern über den gesamten Untersuchungszeitraum auch deren interne Organisation über Inventar-, Wirtschafts- und vor allem auch Personalakten, die sämtliche Akteure vom Anstaltsdirektor über das weitere medizinische Personal bis hin zu Lehrern, Wärter*innen, Verwaltern oder Seelsorgern betreffen. Darüber hinaus verwahrt das NLA OL die interne archivalische Überlieferung der Irrenheilanstalt bzw. des Landeskrankenhauses Wehnen von der Gründung bis ins Jahr 2004, darunter gut 13.000 Patient*innenakten. Hinzu kommt eine ausgesprochen heterogene, aber über das Archivinformationssystem „Arcinsys Niedersachsen und Bremen“ gut erschlossene Überlieferung auf der zentralen Regierungsebene wie auch auf der lokalen Ebene der einzelnen Ämter des Herzogtums, wo sich einschlägige Akten an ganz verschiedenen Stellen finden können – beispielsweise in der Überlieferung der Medizinal- und Sittenpolizei, bei den lokalen Institutionen der Armenfürsorge oder unter den Gnadensachen der verschiedenen Regierungsressorts. Einzelne Fallgeschichten lassen sich häufig quer über viele verschiedene Bestände nachverfolgen und dann teils in erstaunlicher Dichte rekonstruieren. 

Lüders 1987: Jürgen Lüders, Zur Entstehung und Entwicklung ausgrenzender Institutionen – am Beispiel der „Irrenheilanstalt zu Wehnen“ (1845 bis 1868), Diplomarbeit Universität Oldenburg 1987, NLA OL Slg 10 Best. 297 F Nr. 39.

Maeder 1991: Christel Maeder, Gründungsgeschichte des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Wehnen bei Oldenburg, Bad Zwischenahn 1991.
 

Die digitale Edition bietet im Gegensatz zur klassischen Quellenedition in Buchform die Möglichkeit einer nicht-linearen Präsentationsform, was im vorliegenden Fall der grundlegenden Ambivalenz des Untersuchungsgegenstands besonders angemessen ist. Es werden zwei Zugangsperspektiven auf das ausgewählte Material kombiniert, nämlich zum einen die „Betroffenenperspektive“ durch die möglichst dichte Dokumentation exemplarischer Fallgeschichten und zum anderen die institutionelle Perspektive der Anstalten und involvierten Behörden. Dieser doppelte Zugriff basiert auf der grundlegenden Einsicht der jüngsten Forschung, dass keine der beiden Perspektiven allein ausreicht, um die Psychiatriegeschichte adäquat zu dokumentieren: So kann der rein institutionengeschichtliche Zugriff die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen bestenfalls indirekt erfassen und birgt dazu das Risiko, geistig differente Personen von vornherein auf ihren Status als „Patienten“ zu reduzieren und sie zudem zu passiven „Empfängern“ medizinischer und institutioneller Fürsorgeleistungen zu degradieren. Eine reine Sammlung von Fallgeschichten liefe dagegen gerade im digitalen Medium Gefahr, die Lebensgeschichten betroffener Menschen als „Patientenschicksale“ weitgehend losgelöst aus ihrem soziokulturellen Kontext zu präsentieren und sie damit am Ende – ethisch hoch problematisch – als ahistorische „Kuriositätensammlung“ rezipierbar zu machen.
Das Material wird in einer Weise präsentiert, die es den Nutzer*innen ermöglicht, immer zwischen beiden Perspektiven zu wechseln und so die soziale Logik des Umgangs mit geistig differenten Menschen in ihrer Komplexität und Ambivalenz zwischen medizinischer Kategorisierung, staatlicher Verwaltung und soziokultureller Praxis nachzuvollziehen. Da die Quellenauswahl dabei primär durch die Rekonstruktion der Fallgeschichten bestimmt wird, werden damit auch solche Quellen für die psychiatriehistorische Forschung erschlossen, die bislang selten betrachtet wurden, weil sie nicht unmittelbar dem institutionellen Kontext psychiatrischer Anstalten entstammen.

In der Kategorie der „Betroffenenperspektive“ sollen zehn Fallgeschichten aus der Zeit von ca. 1775 bis 1875 möglichst vollständig durch archivalische Quellen dokumentiert und in ausführlichen Sachkommentaren erschlossen werden. 

In der Kategorie „Institutionenperspektive“ sollen komplementär dazu ausgewählte, besonders wichtige institutionenbezogene Grundlagentexte ausgewählt werden, die das behördliche und professionelle Handeln dokumentieren und die für das Verständnis der Entscheidungsprozesse und der Organisation der zuständigen Institutionen besonders relevant sind. Dazu zählen insbesondere Anstaltsordnungen und -statuten, Verfügungen zu Ausstattung und Personal, Dienstanweisungen und Instruktionen für das Personal sowie die regelmäßigen Berichte der Leiter der beiden staatlichen Anstalten Wehnen und Blankenburg. Daneben stehen zentrale außerinstitutionelle Texte (etwa Gesetzesentwürfe) sowie zeitgenössische Zustandsberichte über die Institutionen, die zur Entwicklung der Psychiatrie im Herzogtum Oldenburg beitrugen.

Gemäß der doppelten Zugangsperspektive der geplanten Edition werden die einzelnen Dokumente in der Regel nicht nur im Kontext einer individuellen Fallgeschichte präsentiert, sondern zugleich auch dem entsprechenden Kapitel der „Institutionenperspektive“ zugeordnet. Damit bilden die Fallgeschichten zugleich ein maßgebliches Auswahlkriterium für die Quellenpräsentation zur Institutionengeschichte.
 

Die Datenerfassung und Texterschließung sowie die Erstellung der digitalen Edition erfolgen über die an der Universität Trier entwickelte virtuelle Forschungsumgebung für die Geisteswissenschaften FuD. Die technische Umsetzung wird dabei vom Servicezentrum eScience unterstützt. 

https://fud.uni-trier.de/

•    Vogel, Christine: Jenseits der Anstalt. Zum Umgang mit geistig differenten und psychisch kranken Menschen im 19. Jahrhundert. Beispiele aus Südoldenburg, in: Bölsker, Franz u.a. (Hg.): Dona Historica. Freundesgaben für Alwin Hanschmidt zum 80. Geburtstag, Berlin u.a. 2017, S. 255-275.

•    Ausstellungsheft „Gemüthskrank und gefährlich wüthend“: Schicksale psychisch kranker Menschen auf dem Land im 19. Jahrhundert: ein Ausstellungsprojekt von Studierenden des Fachs Geschichtswissenschaft der Universität Vechta in Kooperation mit dem Museum Vechta und Museumsdorf Cloppenburg, hg. v. Museum Vechta, Stadt Vechta, Museumsdorf Cloppenburg, Vechta/Cloppenburg 2018.
 

Mitarbeitende an der Universität Vechta:
•    Prof. Dr. Christine Vogel (Projektleitung)
•    Sophie Große, M.A. (Projektmitarbeiterin)
•    Laura Rehmann, M.A. (wissenschaftliche Hilfskraft)

Kooperationspartner:
Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Oldenburg
Servicezentrum eSciences, Universität Trier

Workshop mit dem NLA zum Thema "Stand und Perspektiven der psychiatriehistorischen Forschung und Überlieferung in Niedersachsen"

24. und 25. Oktober 2024

Anmeldung bis zum 14. Oktober 2024 unter: tagung@nla.niedersachsen.de

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Tag des Offenen Denkmals 2024

08.09.2024

Der Tag des Offenen Denkmals findet dieses Jahr am Sonntag, den 8. September 2024, unter dem Motto "Wahr-Zeichen. Zeitzeugen der Geschichte" statt. Unser Projekt "Zwischen Fürsorge und Zwang" beteiligt sich im Niedersächsischen Landesarchiv am Standort Oldenburg mit einem Mitmach-Angebot zum Entziffern alter Akten.

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Vortrag: "Wahnsinnige, Tolle, Rasende". Die Anfänge staatlicher "Irrenfürsorge" und das Leben mit psychischer Krankheit im Herzogtum Oldenburg um 1800

07.07.2023
Ort: Lambertus-Saal der Evangelischen Kirchengemeinde, Markt 17, 26121 Oldenburg
Zeit: 19:00 Uhr

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