Springe zum Inhalt

Thorsten Neischwander: Historisches Lernen und KI:

Konzepte für Forschung und Praxis – Erfahrungen aus einem Seminar der Didaktik der Geschichte

Abstract: 
 

Betrachtet man wie text- und bildgenerative KI-Modelle zu ihren Ergebnissen kommen, lassen sich zwei besondere Analogien zum historischen Lernen ziehen.

Erstens bringen Lernende Vorerfahrungen mit in den Geschichtsunterricht. Diese sind beeinflusst durch die Allgegenwart von Geschichte in der Öffentlichkeit. Im Theoriegebäude der Geschichtsdidaktik werden diese Objektivationen von Geschichte in der Öffentlichkeit mit dem Begriff Geschichtskultur (Pandel (2017), S. 147f.) beschrieben. Die Vorstellungen der Lernenden vom Gegenstand des Unterrichts werden durch diese Einflüsse „trainiert“ (Oswalt (2017), S. 123f.), wie auch ein KI-Algorithmus trainiert wird.

KI-Modelle bekommen Trainingsdaten vorgelegt. Diese Daten stammen stets aus der Vergangenheit (Zweig (2023), S. 5f.). Offensichtlich können nur Daten eingegeben werden, die in der Zeit vor dem Training entstanden sind. Daher wird das Modell, historisch gesprochen, an Quellen trainiert (Goetz (2014), S.80ff.), die aber nur auf ihre textliche Struktur hin analysiert und weniger einer historisch-kritischen Analyse unterzogen werden. Präziser ist daher der Vergleich mit der Geschichtskultur, die das Modell vorgelegt bekommt. Genau wie wir in unserer Vorstellung von den Objekten der Geschichtskultur geprägt werden, stellen diese auch einen wichtigen Teil der Trainingsdaten von KI-Modellen dar und beeinflussen so ihre Ausgaben.

Zweitens wird Geschichte immer narrativ erschaffen (Barricelli (2017), S.255-263). Sowohl Lernende im Unterricht, aber auch Wissenschaftler:innen oder Journalist:innen konstruieren Geschichte durch Narrative, die auf Quellen und Überlieferungen basieren.

An KI-Modelle werden Inputs herangetragen: die Prompts. Aus diesen Anfragen erzeugen Sprachmodelle ebenfalls narrative Texte, auf Basis ihres vorherigen Trainings. Sie erstellen auf der Grundlage des vorhandenen „Wissens“ der Trainingsdaten Texte, die eine spezifische (An-)Frage beantworten. Da menschliche Kommunikation simuliert werden soll, werden diese Antworten selbstverständlich ebenso narrativiert.

Zurzeit wird ein mit dem Lehrpreis der Philipps-Universität Marburg4 ausgezeichnetes Seminar durchgeführt, das erkundet, welche Potenziale und Möglichkeiten sich aus den beschriebenen Analogien für die Praxis des Geschichtsunterrichts ergeben. Die Studierenden arbeiten dazu explorativ an selbstgewählten Fragen zur Anwendung von KI-Modellen in Unterrichtspraxis, Unterrichtsvorbereitung und Unterrichtsforschung.

Eine Gruppe beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die Vorstellungen von Schüler:innen mit den Narrativen von ChatGPT in Einklang stehen, eine andere betrachtet KI-Algorithmen in Computerspielen. Eine dritte Gruppe möchte die KI "ideologisch" gefärbte Narrative erzeugen lassen und diese dann kritisch im Unterricht betrachten. Weitere Gruppen setzen sich mit den Möglichkeiten bildgenerativer KI auseinander, um die Vorstellungen von Schüler:innen abzubilden oder um historisch triftige Bilder zur Verwendung im Unterricht zu erzeugen.

Die Ergebnisse dieser Arbeiten sollen im eingereichten Vortrag vorgestellt und in die Diskussion eingebracht werden. Da im Fokus die Funktionsweise generativer KI steht, zeigen sich Anknüpfungspunkte für medienpädagogische Fragestellungen und deren mögliche Integration in die Praxis des Geschichtsunterrichts.

Literatur:

Barricelli (2017), Michele, Narrativität, in: Ders./Lücke, Martin (Hg.), Handbuch Praxis des
Geschichtsunterrichts, Band 1, Schwalbach/Ts., 2017, S. 255 – 280.
Goetz (2014), Hans-Werner, Proseminar Geschichte: Mittelalter, Stuttgart, 20144
Oswalt (2017), Vadim, Imagination im historischen Lernen, in: Barricelli, Michele/Lücke, Martin (Hg.),
Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Band 1, Schwalbach/Ts., 2017, S. 121 – 135.
Pandel (2017), Hans-Jürgen, Geschichtskultur, in: Barricelli, Michele/Lücke, Martin (Hg.), Handbuch
Praxis des Geschichtsunterrichts, Band 1, Schwalbach/Ts., 2017, S. 147 – 159.
Zweig (2023), Katharina A., Droht KI den Menschen zu ersetzen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr.
42/2023, Bonn, S. 4-8.