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Cornelia Bogen: Die heute Jungen werden die „digitalen Immigranten“ von morgen sein

– Zur Notwendigkeit der Entwicklung einer altersgerechten Mediendidaktik (Mediengeragogik)

Abstract:
 

 

 Die Medienbildung und Medienkompetenzförderung von Menschen im höheren Lebensalter fristete ungeachtet einer „digitalen Spaltung“ zwischen Jungen und Alten (Reissmann 2022, S. 19) in Forschung und Praxis jahrzehntelang ein Schattendasein. So war die Medienpädagogik, die sich traditionell mit Fragen der Förderung von Medien- und Digitalkompetenzen auseinandersetzt, auf Kindheit und Jugend beziehungsweise schulische Kontexte ausgerichtet. Erst mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurden auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die sozialen Folgen einer digitalen Wenig- und/oder Nichtnutzung digitaler Technologien offenbar (BAGSO, 2022, S. 19, S. 43-44), so dass Ältere nun als Zielgruppe politischer (Digitalpakt Alter, vgl. BAGSO & BMFSFJ 2021), mediennutzungswissenschaftlicher (Rathgeb et al. 2022) und medienpädagogischer Reflexionen beachtet werden. Ungeachtet der in den letzten Jahren von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) deutschlandweit aufgebauten Weiterbildungs- und Unterstützungsangebote zum Digitalkompetenzerwerb ist jedoch zu bilanzieren, dass sich eine systematische und vor allem differenzierende Medienforschung und altersgerechte Mediendidaktik bislang nicht hat etablieren können, weil die Bezugsdisziplinen der altersbezogenen Digitalisierungsforschung – Gerontologie, Geragogik und Medienpädagogik – bislang nicht im ausreichenden Maße miteinander in den Dialog getreten sind und ihre Perspektiven nicht zueinander in Bezug gesetzt haben (Hartung-Griemberg & Bogen 2022, S. 23). So steht in Deutschland die Entwicklung einer digitalen Weiterbildungsstrategie für das höhere Lebensalter nach wie vor aus, die u.a. Schlüsselkompetenzen benennt, die für die kulturelle und politische Teilhabe älterer Menschen konstitutiv sind (Bubolz-Lutz 2020, S. 1-3). 

Meine im Rahmen des Verbundprojekts „Digitales Deutschland“ durchgeführten empirischen Untersuchungen (Angebotsanalyse, Expert:innen-Interviews, Migrationsstudie) zu den Ermöglichungsbedingungen des Digitalkompetenzerwerbs im höheren Lebensalter haben gezeigt, dass die Vermittlung technisch-funktionaler Fähigkeiten (instrumentell-qualifikatorische Dimension von Medienkompetenz) weiterhin im Fokus populärer Ratgeberliteratur sowie formaler, non-formaler und informeller Weiterbildungsangebote steht, während kritisch-reflexive, affektive, soziale und kreative Medienkompetenzen nur eine marginale Rolle spielen. Und nach wie vor werden marginalisierte Gruppen (ältere Frauen, Hochaltrige, Ältere mit Migrationsgeschichte, niedrigem Einkommen, niedriger Bildung oder mit Behinderungen) kaum von den Bildungsakteur:innen erreicht (Bogen 2023a, S. 11; Bogen 2023b, S. 7). Doch eine Medienbildung für marginalisierte Gruppen muss auch die reflexiven, sozialen und kulturellen Dimensionen des Medienkompetenzerwerbs berücksichtigen (Bosse 2012, S. 13-14), wenn Ältere dabei unterstützt werden sollen, stärker in öffentlichen Diskursen präsent zu sein, um stereotype Altersbilder zu hinterfragen, politische und kulturelle Teilhabe auszuüben und die Digitalisierung mitzugestalten. 

Vor dem Hintergrund einer fehlenden wissenschaftlichen Grundlage für eine altersgerechte Mediendidaktik stellt mein Beitrag anhand meiner eigenen empirischen Forschung und der Zusammenführung gerontologischer, geragogischer und medienpädagogischer Forschungsliteratur Überlegungen zur systematischen Fundierung für die medienbezogene Bildungsarbeit mit Älteren vor. Neben theoretischen und begriffssystematischen Grundlegungen nehme ich die sich ausdifferenzierenden Lebenskontexte in den Blick, diskutiere Ansätze und Methoden, die sich in Forschung und Praxis bewährt haben, erörtere Möglichkeiten der mediengeragogischen Aus- und Weiterbildung und identifiziere Handlungsdesiderate in Bildung und Praxis. Da die technologische Entwicklung auch zukünftig voranschreiten wird und die heute junge Generation die „digitalen Immigranten“ (Prensky 2001) von morgen sein werden, ist es unerlässlich, dass die medienpädagogische Forschung stärkere Impulse in der Wissenschaft, Bildungspraxis und Bildungspolitik setzt und im Austausch mit relevanten Fachdisziplinen eine Mediengeragogik konstituiert. Der vorliegende Beitrag unterbreitet Vorschläge, auf welche Art und Weise dies gelingen kann. 

 

Literatur 

BAGSO (Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V.) (2022). Leben ohne Internet – geht’s noch? Ergebnisbericht zu einer Umfrage der BAGSO. www.bagso.de/fileadmin/userupload/bagso/06Veroeffentlichungen/2022/Ergebnis-berichtLebenohneInternetgehtsnoch.pdf 

BAGSO & BMFSFJ (2021) - Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), & Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). (2021). Digitalpakt Alter. www.digitalpakt-alter.de/ 

Bogen, Cornelia (2023a). "Digitale Inklusion älterer Menschen: mit besonderem Fokus auf Behinderung und Migration". Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: digid.jff.de/fokus-auswertung-digitale-inklusion 

Bogen, Cornelia (2023b). "Eine Frage des Geschlechts? Digitalkompetenzen im fortgeschrittenen Lebensalter". Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft, 36 (4). Supplement zu FJ SB Heft 4/2023, S. 1-16. forschungsjournal.de/fjsb/wp-content/uploads/fjsb-plus_2023-4_bogen.pdf 

Bosse, Ingo (Hrsg.). (2012). Medienbildung im Zeitalter der Inklusion. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM). 

Bubolz-Lutz, Elisabeth (2020). Dialogpapier zur geragogischen Annäherung an Digitalisierungsprozesse in Bezug auf ältere Menschen. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e.V. (DGGG) und AK Geragogik. drive.google.com/file/d/180O7pK1kvECORdW7gA-R7OSgT3qUPKF/view 

Hartung-Griemberg, Anja & Cornelia Bogen (2022). "Zum Stand der Debatte in Deutschland". Medien & Altern. Fachzeitschrift für Forschung und Praxis, 10(21), S. 12-27 (Themenschwerpunkt: Digitalisierung). 

Prensky, Marc (2001). Digital Natives, Digital Immigrants. On the Horizon (MCB University Press, Vol. 9 No. 5, October 2001). www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf 

Rathgeb, T., Doh, M., Tremmel, F., Jokisch, M. R., Groß, A.-K. (2022). SIM-Studie 2021. Senior*innen, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang von Personen ab 60 Jahren in Deutschland. Studie der Medienanstalt für Baden-Württemberg und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz = Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs). www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/SIM/2021/WebSIM-Studie2021finalbarrierefrei.pdf 

Reissmann, Marcella, Oswald, Veronica, Zank, Susanne, & Tesch-Römer, Clemens (2022). Digitale Teilhabe in der Hochaltrigkeit. D80+ Kurzberichte. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Universität zu Köln, Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres), Deutsches Zentrum für Altersfragen PID. nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-78429-7