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Carmen Flury: Retrocomputing

Ein Ansatz zur kritischen Reflexion des digitalen Fortschrittsparadigmas

Abstract:

Angesichts drängender globaler Probleme wie Klimawandel, Ressourcenverknappung, Datenkapitalismus und digitaler Ungleichheit erfordert eine zeitgemäße digitale Medienbildung eine vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit Vorstellungen von technologischem Fortschritt (Heinz 2023; Kminek et al. 2024; Niesyto 2017; Schiefner-Rohs, Hofhues und Breiter 2023). Werden technologische Entwicklungen als gegeben und unausweichlich hingenommen, kann lediglich passiv darauf reagiert werden. Stattdessen muss es Aufgabe der medienpädagogischen Forschung und Praxis sein, proaktiv alternative Zukünfte für eine nachhaltige Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien aufzuzeigen und anzustreben (Macgilchrist 2023; Selwyn 2024).
Der Beitrag stellt einen konkreten Ansatz zur Reflexion des digitalen Fortschrittsparadigmas in der medienpädagogischen Praxis vor. Im Kontrast zur vorherrschenden Zukunftsfixierung des Diskurses um digitale Medien und Technologien rück dabei die Vergangenheit in den Fokus, um den technologischen Fortschritt der Digitalisierung kritisch zu reflektieren (Selwyn 2021). Retrocomputing, verstanden als eine medienarchäologische Praxis, die sich mit „veralteter” digitaler Technik beschäftigt, kann einen kreativen Beitrag dazu leisten, den digitalen Wandel erfahrbar zu machen (Emerson 2022; Höltgen 2016; 2022). Lernende sollen sich durch die praktische Auseinandersetzung mit „alter” Hard- und Software den meist unreflektierten soziotechnischen Fortschrittsvorstellungen bewusstwerden, die den digitalen technologischen Wandel antreiben, und diese kritisch auf die dahinterliegenden Werte und Normen hinterfragen.
In der praktischen Nutzung „alter” Computertechnik sollen diese Werte, Normen und Vorstellungen über direkte materielle, ästhetische und affektive Erfahrungen reflektiert werden. Während die Nutzung neuer digitaler Technik und Medien ein vergleichsweise reibungsloses und weitgehend störungsfreies Erlebnis bietet – wobei Materialitäten und die für ihren Betrieb nötigen Infrastrukturen immer weiter in den Hintergrund treten – richtet die Nutzung alter Computertechnik unsere Aufmerksamkeit auf die physische Präsenz und Funktionsweise des Gerätes: Das Knistern eines aufstartenden PCs, das Rauschen und Trillern eines sich einwählenden Modems, der Geruch der sich erwärmenden Elektronik. Die materielle und sinnliche Dimension der Erfahrung rückt das Medium des Computers selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Retrocomputing konfrontiert uns auch mit der Langsamkeit vergangener Technologien. Die ungewohnt langen Wartezeiten beim Hochfahren eines Computers oder beim Laden eines Programms wecken womöglich Ungeduld, die Anlass zu einer Auseinandersetzung mit Beschleunigung und Effizienz als dominante Topoi heutiger Vorstellungen von technologischem Fortschritt sein kann. Welchen Zweck hat das Streben nach immer schnelleren und leistungsfähigeren Geräten? Und welche Auswirkungen hat dieses Streben auf unsere Gesellschaft, die Umwelt und das persönliche Wohlergehen der Nutzer*innen moderner digitaler Technik? Retrocomputing bietet aus medienpädagogischer Perspektive einen Anlass, alternative Fortschrittsvisionen zu erkunden, die auf eine nachhaltigere, gerechtere Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien abzielen (Emerson 2022).
Der Beitrag stellt die theoretischen Grundlagen für eine geplante praktische Intervention durch den Einsatz von Retrocomputing in der Hochschullehre vor und diskutiert deren Potential, einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen digitalen Bildung leisten zu können. Retrocomputing als kritisch-praktische Intervention in der digitalen Medienbildung zielt darauf ab, technologischen „Fortschritt” nicht als linear und alternativlos zu betrachten. Die praktische Auseinandersetzung mit alter Computertechnik soll aufzeigen, dass technologischer Wandel ein dynamisches Zusammenspiel von technischen, sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren ist. Diese Perspektive betont die wechselseitige Beeinflussung von Technologie und Gesellschaft und fordert eine kritische Reflexion der Machtstrukturen und sozialen Kontexte, die technologische Fortschrittsvisionen und Entwicklungen prägen.

 

Literatur

Emerson, Lori. “Reclaiming the Future with Old Media.” In The Bloomsbury Handbook to the Digital Humanities, hrsg. von James O'Sullivan (S. 417-426). London/New York: Routledge, 2022.

Heinz, Jana. “Bildungsgerechtigkeit in Einer Digitalen Gesellschaft.” MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 52 (2023): 191-216. https://doi.org/10.21240/mpaed/52/2023.02.10.X

Höltgen, Stefan. RESUME. Hands-on Retrocomputing (Reihe: Computerarchäologie, Band 1). Bochum: Projekt-Verlag 2016.

Höltgen, Stefan. >OPEN HISTORY_ Archäologie des Retrocomputings. Berlin: Kadmos 2022

Kminek, Helge, Mandy Singer-Brodowski, Verena Holz, Hrsg. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung im Umbruch? Beiträge zur Theorieentwicklung angesichts ökologischer, gesellschaftlicher und individueller Umbrüche. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, 2024.

Macgilchrist, Felicitas. Technology, Activism and Living among Planetary Ruins. In Bildung für eine nachhaltige Entwicklung im Umbruch? Beiträge zur Theorieentwicklung angesichts ökologischer, gesellschaftlicher und individueller Umbrüche, hrsg. von Kminek, Helge, Mandy Singer-Brodowski, Verena Holz, S. 79–102.Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, 2024.

Niesyto, Horst. “Medienpädagogik und digitaler Kapitalismus.” In Digitale Transformation im Diskurs: Kritische Perspektiven auf Entwicklungen und Tendenzen im Zeitalter des Digitalen, hrsg. von Christian Leineweber und Claudia de Witt, S. 44–77. Hagen: FernUniversität in Hagen, 2017. https://doi.org/10.18445/20171206-102747-0

Schiefner-Rohs, Mandy, Sandra Hofhues, and Andreas Breiter, eds. “Datafizierung (in) Der Bildung: Kritische Perspektiven Auf Digitale Vermessung in Pädagogischen Kontexten.” Digitale Gesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag, 2023. https://doi.org/10.14361/9783839465820.

Selwyn, Neil. “Sharpening the ‘Ed-Tech Imagination’: Improving Academic Research in Education and Technology.” Provocation paper presented to the ‘Learning with New Media’ conference – Monash University, Melbourne – 23rd March 2012. Melbourne: Monash University, 2012.

Selwyn, Neil. “Digital Degrowth: Toward Radically Sustainable Education Technology.” Learning, Media and Technology 49, no. 2 (2023): 186–99. https://doi.org/10.1080/17439884.2022.2159978