Julie Lüpkes: EdTech-Startups kritisch medienethnografisch untersuchen:
Von der Akquise zum Feldzugang
Abstract:
Mit dem Aufkommen neuer Bildungsmedientechnologien und der gleichzeitigen Undurchschaubarkeit genutzter Anwendungen wird es für Stakeholder*innen im Bildungsbereich zunehmend herausfordernd, ausreichend informierte Entscheidungen über deren Einsatz zu treffen. So sind Educational Technologies (EdTech) nicht nur in ihrer Funktionalität, sondern auch in ihrer Entstehung meist noch eine ‚Black Box‘ (Hartong, 2021), bei der sich algorithmische Logiken in die Umsetzung eines pädagogischen Konzeptes einschreiben können (Troeger et al., 2023; Weich et al., 2021). Bildungsmedientechnologien entstehen in einem Zusammenspiel von soziotechnisch verhandelten Vorstellungen und sozialer Konstruktion (Bijker et al., 1987). Eine Technologie ist demnach Ausdruck eines bestimmten Bildes von Bildungs- und Lernprozessen, von pädagogischen Theorien und didaktischen Konzepten von Seiten ihrer Entwickler*innen. Wie genau dieses Bild in algorithmische bzw. digitale Umgebungen überführt, wie es programmiert und umgesetzt wird, ist Gegenstand vielfältiger Aushandlungsprozesse und -praktiken (vgl. Pink et al., 2016; Suchman, 2006). Diese sind eingebettet in einen sozialen Arbeitszusammenhang, geprägt von Übersetzungspraktiken und Priorisierungsprozessen zwischen unterschiedlichen inner- und außerorganisationalen Akteur*innen und Professionen, die in einem aktuellen Forschungsprojekt der Autorin erforscht werden sollen. Das Forschungsprojekt geht davon aus, dass sich nicht nur Schule und Unterricht (Proske et al., 2023), sondern auch die Bildungsmedienproduktion in einem entscheidenden digitalen Wandel befindet, bei dem neue Akteur*innen in den Markt drängen und ihn damit grundlegend verändern. Während etablierte Bildungsmedienverlage sich neu erfinden müssen, drängen neue Player, vermeintlich ‚disruptive‘ Startups (Daub, 2020), in den Markt. Junge Medienorganisationen sind für die Forschung aber auch dahingehend interessant, dass gerade die Aushandlungsprozesse in der frühen Gründungs- und Entstehungsphase einer Medienunternehmung grundlegende soziotechnisch beeinflusste Konzeptentscheidungen formen. Daher erscheint dieser Moment als geeignet, um die mediale Konstruktion von pädagogischen Konzepten sozusagen ‚in the making‘ zu erforschen. Mithilfe einer Medienethnografie (Agar, 1986, 1996; Bergmann, 2008) in einem EdTech-Startup soll im Forschungsprojekt geklärt werden, welche Dynamiken und Brüche bei der Entwicklung von digitaler Bildungsmedientechnologie sichtbar werden, was bei der Umsetzung pädagogischer Konzepte in algorithmische Umgebungen warum und wie priorisiert wird und für welche größeren gesellschaftlichen Wandlungsprozesse im Kontext schulischer Bildung diese Beobachtungen relevant sind. Hierbei entstehen Gesprächsnotizen, Interviewtranskripte, Feldnotizen, dichte Beschreibungen und Materialsammlungen, die im Anschluss an eine ethnografische Erhebungsphase von circa 6 Monaten mittels Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) ausgewertet werden sollen. Eine Hürde bei der Durchführung der Forschung ist die Akquise des Startups, das beobachtet werden soll. Während sich EdTech-Startups bisher offen zeigten für Interviewstudien (Krein & Schiefner-Rohs, 2023; Troeger et al., 2023; Weich et al., 2021), verlangt eine teilnehmende Beobachtung, gerade bei jungen Startups, u.a. einen weitaus höheren Vertrauensvorschuss in die forschende Person (Cunliffe & Alcadipani, 2016). Auch das Suchen und Finden junger EdTech-Startups bringt Schwierigkeiten mit sich und verlangt einen recht frühen Feldeinstieg durch den Besuch von Startup-Events, Messen und Early-Stage-Förderprogrammen. Der geplante Beitrag berichtet daher von Erfahrungen, Tipps und möglichen Problemen bei der Akquise und dem Feldzugang zu Bildungsmedientechnologie-Startups, die auch für andere Kooperationsprojekte mit der Bildungsmedienindustrie interessant sind. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung des Beitrags ist diese Phase im Forschungsprojekt bereits abgeschlossen, sodass ein aktueller Erfahrungsbericht unter der Einbindung von Material aus dem Feld erfolgen wird.
Literatur:
Agar, M. (1986). Speaking of ethnography. Sage.
Agar, M. (1996). The professional stranger. Academic Press.
Bergmann, J. (2008). Medienethnographie. In U. Sander, F. von Gross, & K.-U. Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik (S. 328–334). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bijker, W. E., Hughes, T. P., & Pinch, T. (Hrsg.). (1987). The Social construction of technological systems. MIT Press.
Cunliffe, A. L., & Alcadipani, R. (2016). The Politics of Access in Fieldwork: Immersion, Backstage Dramas, and Deception. Organizational Research Methods, 19(4), 535–561.
Daub, A. (2020). What tech calls thinking. FSG Originals x Logic, Farrar, Straus and Giroux.
Hartong, S. (2021). The power of relation-making: Insights into the production and operation of digital school performance platforms in the US. Critical Studies in Education, 62(1), 34–49.
Krein, U., & Schiefner-Rohs, M. (2023). »Hey, ich habe gesehen, du hast noch zwölf Wissenslücken« (Prägende) Verständnisse von Lernen und Lehren im Kontext datenbasierter Bildungstechnologien. In M. Schiefner-Rohs, S. Hofhues, & A. Breiter (Hrsg.), Datafizierung (in) der Bildung—Kritische Perspektiven auf digitale Vermessung in pädagogischen Kontexten (S. 63–80). Transcript.
Pink, S., Horst, H. A., Postill, J., Hjorth, L., Lewis, T., & Tacchi, J. (Hrsg.). (2016). Digital ethnography: Principles and practice. SAGE.
Proske, M., Rabenstein, K., Moldenhauer, A., Thiersch, S., Bock, A., Herrle, M., Hoffmann, M., Langer, A., Macgilchrist, F., Wagener-Böck, N., & Wolf, E. (Hrsg.). (2023). Schule und Unterricht im digitalen Wandel. Ansätze und Erträge rekonstruktiver Forschung. Verlag Julius Klinkhardt.
Strauss, A. L., & Corbin, J. M. (1996). Grounded theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz.
Suchman, L. (2006). Human-Machine Reconfigurations: Plans and Situated Actions. Cambridge University Press.
Troeger, J., Zakharova, I., Macgilchrist, F., & Jarke, J. (2023). Digital ist besser!? – Wie Software das Verständnis von guter Schule neu definiert (S. 93–129). Springer VS.
Weich, A., Deny, P., Priedigkeit, M., & Troeger, J. (2021). Adaptive Lernsysteme zwischen Optimierung und Kritik: Eine Analyse der Medienkonstellationen bettermarks aus informatischer und medienwissenschaftlicher Perspektive. MedienPädagogik 44, 22–51.