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Germanistische Sprachwissenschaft

Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten

Das Jahr der Wörter

(244) 1. September – weiland

In der gestrigen Kolumne (hundeelend) haben wir ein altertümliches Wort versteckt, das dem einen oder der anderen unserer Leserinnen und Leser aufgefallen sein dürfte: weiland. Der „weiland CSU-Parteivorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber“ war zitiert worden, und aus dem Zusammenhang wird deutlich geworden sein, was weiland bedeutet: ›früher, damals, ehemals, einst‹. In Formulierungen wie „zwischen dem malerischen Gemäuer der [...] weiland erzbischöflichen Burg“ (Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull) oder „sein Urgroßvater, weiland General in der kaiserlichen Armee“ oder auch „wie weiland üblich“ wird klar, dass man weiland problemlos beispielsweise durch einst ersetzen könnte, ohne den Sinn zu verändern.

Weiland ist eine Partikel, das heißt ein Wort, das man nicht flektieren kann. Das bedeutet normalerweise, dass man es nicht attributiv, also zur näheren Bestimmung eines Substantivs verwenden kann, so wie das mit Adjektiven möglich ist. In mein alter Freund ist alt das attributive Adjektiv; es wird flektiert und passt sich der Form des Substantivs an (meines alten Freundes, meinem alten Freund usw.). Partikeln kann man nur in wenigen Fällen attributiv gebrauchen. Mein einst Freund oder mein ehemals Freund kann man nicht sagen, sondern muss ein Adjektiv anstelle der Partikel verwenden: mein einstiger Freund oder mein ehemaliger Freund.

Mit weiland kann man ein Substantiv aber eben doch attributiv bestimmen: Mein weiland Freund bedeutet ›mein ehemaliger Freund‹.

Weiland, mittelhochdeutsch wîlen(t), althochdeutsch wîlôn, ist eigentlich eine Flexionsform des heute noch als Weile bekannten Substantivs und bedeutete ›vor einer Weile, vor langer Zeit‹. Es kann im Übrigen auch so viel heißen wie ›verstorben‹: „Allhier ruhet in Gott der weiland Hochwohlgeborne Herr, Herr Friedrich Ernst von Hollwede, Baron, Erb- und Gerichtsherr auf Ringenwalde“ (Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg). Man muss die Bedeutung hier – wie prinzipiell – aus dem Zusammenhang erschließen. Nicht ›verstorben‹, sondern ›ehemalig‹ heißt weiland beispielsweise in der rührenden Ballade Mit zwei Worten von Conrad Ferdinand Meyer: „der weiland Pilger Gilbert Becket“, nach dem eine junge Sarazenin in London sucht, ist nicht tot, er ist lediglich kein Pilger mehr.

Nachlesen empfohlen: Der weiland Dichter ist immer noch sehr lebendig.    ⋄    Jochen A. Bär

(245) 2. September – Brache

Schlägt man unser heutiges Wort im großen Duden nach, so findet man: Es kommt vom mittelhochdeutschen brâche (althochdeutsch: brahha), und bedeutete ursprünglich ›das Brechen‹. Heute kennt man es in den beiden Bedeutungen ›brachliegendes Feld oder Stück Land‹ (auf der Brache wächst allerlei Unkraut) und ›Zeit, während deren ein Acker brach liegt‹ (der Boden soll sich während der Brache erholen).

In der mittelalterlichen Dreifelderwirtschaft war die Brache einer von drei Abschnitten eines Zyklus, in dem man drei Felder immer abwechselnd (reihum) nutzte: eines wurde mit Wintergetreide, eines mit Sommergetreide bebaut und das dritte lag brach, das heißt, der Boden konnte sich in dieser Ruhephase erholen, um erst danach wieder mit Wintergetreide bepflanzt zu werden. Heute kann Land aus ganz verschiedenen Gründen brachliegen – unter anderem deshalb, weil die Subventionen, die man dafür bekommt, es nicht zu bebauen, höher sind als die Gewinne, die es durch landwirtschaftliche Nutzung abwerfen könnte. In Gebieten, in denen man die Bodenqualität durch Düngung nicht oder nur schlecht verbessern kann, gibt es aber immer noch das Prinzip der Brachejahre.

Bei still gelegten, dem Verfall überlassenen Industrieanlagen spricht man auch von Gewerbe- oder Industriebrachen.

Im übertragenen Sinne kann zudem noch so manches andere brachliegen. Zum Beispiel kann jemand seine Kenntnisse oder Fähigkeiten brachliegen lassen, das heißt, sie bleiben ungenutzt und verkümmern. In nicht wenigen Betrieben, Kollegien oder Ähnlichem liegt die Kollegialität brach, weil einige oder alle nur brachial ihre eigenen Interessen verfolgen. (Aber Achtung: brachial kommt nicht von brach oder Brache, sondern vom lateinischen brachium, das ›Arm‹ bedeutet; wer brachial durchs Leben geht, setzt die Arme, insbesondere die Ellenbogen ein.)

Was aber hat die Brache mit brechen zu tun? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal zur mittelalterlichen Dreifelderwirtschaft zurückgehen. Unmittelbar nach der Ernte und vor Beginn der Brache pflegte man den Ackerboden einmal durch- und umzupflügen – nicht um ihn gleich neu zu besäen, sondern um die verbliebenen Pflanzenreste (Wurzelwerk, Stoppeln usw.) in den Boden einzuarbeiten. Das Brachfeld war also wörtlich das umbrochene Feld.

Nicht mit dem Brachfeld zu verwechseln ist übrigens das Blachfeld. Dieses Wort steht für ein ›flaches, ebenes Stück Land‹; blach ist eine mitteldeutsche Variante von flach. Möglicherweise wollte man das zweifache f in Flachfeld vermeiden.    ⋄    Jochen A. Bär

(246) 3. September – Kellnerblick

Wer kennt sie nicht, diese Situation: Man sitzt schon seit einer Viertelstunde in einem allenfalls mäßig besuchten Café, Bistro oder Restaurant; von der Bedienung ist kaum etwas zu sehen, und in den paar Sekunden, in denen doch, wirkt sie – oder er: das spielt in diesem Fall keine Rolle – sehr beschäftigt. Hektisch-planloses Hin- und Hergewusele. Und keine Chance, Kontakt aufzunehmen (es sei denn man wollte quer durch die ganze Bude bölken).

Dann schaut sie-oder-er doch mal in unsere Richtung – und da ist er wieder, unvermeidlich: der Kellnerblick. Prärieblick könnte man auch sagen: Augen auf unendlich. Den Eindruck erwecken, man sei vollauf Herrin-oder-Herr der Lage. Aber auf gar keinen Fall die Winkversuche des mittlerweile dann doch schon leicht verzweifelten Gastes bemerken! Denn das würde bedeuten, dass man eine neue Bestellung aufnehmen müsste ... und man ist ja auch so schon komplett überfordert.

Solange wir noch auf die Bedienung warten, ist Zeit, uns ein paar Gedanken über das Wort Kellnerblick zu machen. Der erste Bestandteil kommt von Keller, das seinerseits auf das spätlateinische cellarium (›Speisekammer, Vorratskammer‹) zurückgeht: eine Weiterbildung zu cella (›Kammer, enger Wohnraum‹), das auch dem deutschen Wort Zelle zugrunde liegt. Der cellerarius war ursprünglich der Kellermeister, der Aufseher über den (Wein-)Keller; da man die eingedeutschte Form Kellerer schlecht aussprechen kann, ist das erste der beiden r zum n geworden: Kell(e)ner. Kellner oder Kellermeister war ursprünglich ein hohes Amt; die heutige Bedeutung (›Bedienung in der Gastronomie‹) entwickelte sich erst seit dem 18. Jahrhundert. In Kellnerblick liegt das Wort übrigens im Plural vor, wie man erkennt, wenn man die entsprechende weibliche Form bildet: Es heißt dann nicht Kellnerinblick, sondern Kellnerinnenblick.

Der zweite Wortbestandteil, Blick, ist eng verwandt mit bleich (ursprünglich: ›glänzend‹) und Blech (ursprünglich: ›das Glänzende‹) und bedeutet eigentlich ›Glanz, Blitz der Augen‹).

Der Kellner(innen)blick ist eine Überlebensstrategie. Wer selbst schon mal bedient hat, weiß, dass das wirklich anstrengend ist: dauernd aufmerksam, dauernd freundlich, dauernd auf den Beinen sein, dauernd Sonderwünsche erfüllen. So jedenfalls in der Theorie. Wenn man aber Gäste nicht sieht, dann muss man sich auch nicht um sie kümmern – jedenfalls nicht gleich.

Oha! Endlich bequemt sich die Bedienung doch mal an unseren Tisch. Sollte sie irgendwann das, was wir bestellen wollen, tatsächlich auch noch bringen: am besten gleich schon zahlen!    ⋄    Jochen A. Bär

(247) 4. September – Ellipse

„Zahlen bitte!“ – Wenn es der Kellnerblick (vgl. unsere gestrige Kolumne) nicht möglich macht, die Bedienung durch einen dezenten Wink auf uns aufmerksam werden zu lassen, müssen wir eben zu akustischen Mitteln greifen. Das Mittel der Wahl: eine Ellipse.

Unter einer Ellipse versteht man eine Ersparung von Redeteilen. Das Wort Ellipse stammt aus dem Griechischen. Elleipsis, latinisiert ellipsis bedeutet eigentlich ›Mangel‹; zugrunde liegt das Verb („Zeitwort“) elleípein (›mangeln, fehlen‹). Auch in der Geometrie kennt man Ellipse als Fachwort: Hier bedeutet es – wie im großen Duden nachzulesen – ›zu den Kegelschnitten gehörende, geschlossene Kurve, die die Form eines gestauchten Kreises hat und um zwei feste Punkte (die Brennpunkte) verläuft, wobei die Abstände von dem einen und von dem anderen Brennpunkt überall die gleiche Summe ergeben‹. Als „mangelhaft“ wurde eine solche elliptische Form wohl empfunden, weil ihr die volle Rundung des Kreises fehlt.

Sprachliche Ellipsen (Auslassungen) sind Kurzformen, zu denen man jederzeit die Vollform bilden könnte; auf der Grundlage dieser virtuellen Vollform versteht man sie. „Gestatten: Kurz.“ – „Verzeihung?“ – „Kurz, gnä' Frau. Mein Name: Kurz.“ – „Tatsächlich? Meiner nicht.“

Ein Kurz-Gespräch voller Ellipsen. Die Vollform wäre: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Kurz.“ – „Ich bitte um Verzeihung?“ – „Ich sagte Kurz, gnädige Frau. Mein Name ist Kurz.“ Und so weiter.

Ob man aus der Antwort der Angesprochenen schließen kann, dass ihr Name lang oder gar Lang ist, sei dahingestellt. (Dass sie nicht Nicht heißt, lässt sich wohl annehmen, denn so heißt man hierzulande in der Regel nicht.) Jedenfalls gilt: Wenn jemand sich jemandem mit Namen vorstellt, so ist die allgemeine Erwartung, dass die andere Person auch ihren Namen nennt. Es nicht zu tun, vielmehr die Nennung des eigenen Namens ausdrücklich zu verweigern, ist ein nicht sehr höfliches, dafür aber umso unmissverständlicheres Signal, jede weitere Kommunikation zu unterlassen. Flirtversuch kurz abgefertigt.

Dergleichen nennt die Sprachwissenschaft dann allerdings nicht Ellipse, sondern einen indirekten Sprechakt: Man sagt nicht das, was man meint, wird aber (jedenfalls normalerweise) dennoch genau verstanden. Auch ein Mittel der Kürze: zur Vermeidung von Weiterungen jeder Art.    ⋄    Jochen A. Bär

(248) 5. September – etepetete

Unser heutiges Wort wurde von der Klasse 8a (im neuen Schuljahr, das am Donnerstag nächster Woche beginnt: Klasse 9a) der Vechtaer Liebfrauenschule vorgeschlagen, „weil“, so schreiben die Schülerinnen und Schüler, „es durch die vielen Vokale lustig klingt und sich so anhört, als hätte es keinen Sinn“. Die vielen Vokale, das sind in diesem Fall lauter e – oder auch „lauter es“; diese Mehrzahlform für den Buchstaben e wäre allerdings umgangssprachlich. Wer jedoch glaubt, dass es sich bei den insgesamt fünf e in etepetete um den gleichen Laut handle, irrt: das betonte lange e, das in etepetete zweimal (an Position 1 und 4) vorkommt, ist phonetisch etwas ganz anderes als das kurze unbetonte e.

Das Wort höre sich so an, „als hätte es keinen Sinn“, damit meinen die Kinder vermutlich, dass man etepetete nicht als Zusammensetzung oder Ableitung von anderen Wörtern erkennt. Denn einen Sinn für sich hat das Wort ja durchaus. Es bedeutet ›geziert, zimperlich, eigen; übertrieben fein, steif und konventionell‹: jemand ist oder spricht etepetete, jemandes Benehmen ist etepetete usw. „Wisch eben nochmal Staub; du weißt, Großmutter ist immer so etepetete“ – das heißt, sie stört sich an jedem Fusselchen.

Etepetete gilt – zumindest laut Duden – als Adjektiv. Allerdings ist diese Einschätzung keineswegs unproblematisch, denn dem Wort fehlen gleich zwei Eigenschaften, die Adjektive üblicherweise auszeichnen: Man kann es nicht steigern und man kann es nicht in flektierter Form vor ein Substantiv setzen (Großmutter ist etepetete ist grammatisch korrekt, aber nicht: Tante Hildegard ist noch etepeteter, und auch nicht: meine etepetete Großmutter und ihre noch etepetetere Schwester Hildegard).

Woher etepetete kommt, ist ebenfalls zweifelhaft. Zwei Möglichkeiten findet man in der Literatur. Küppers Wörterbuch der deutschen Umgangssprache vermutet, dass es zu dem niederdeutschen ete (auch öte oder öde ›überfein‹) gebildet sei: eine „humorvolle Wortkünstelei durch Verdoppelung“. So auch Röhrich im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten: „Etepetete ist wortwitzelnd aus dem Grundwort öte, ete gebildet, das besonders dem nördlichen Teil des deutschen Sprachgebietes bekannt ist. Das im Mecklenburgischen davon abgeleitete Substantiv Ötigkeit bedeutet ›geziertes Wesen‹. Ähnliche Bildungen durch Verdoppelung einer oder mehrerer Silben liegen in eiapopeia, holterdipolter, rumsdibums usw. vor.“

Der Duden nennt als weitere Möglichkeit eine Grundlage von französisch être, peut-être (›[kann] sein, vielleicht‹). Ob das stimmt, wissen wir nicht. Kann sein, vielleicht.    ⋄    Jochen A. Bär

(249) 6. September – Hilfsbereitschaft

Der Taxifahrer, der mich zum Vechtaer Bahnhof bringen soll, hat das schöne Wort Hilfsbereitschaft offenbar noch nie gehört. Zumindest hat er seine Bedeutung nicht verinnerlicht. So stolz ist er auf seine automatisch öffnende Heckklappe, dass er breit hinter dem Lenkrad sitzen bleibt und mich meinen schweren Koffer allein in den Kofferraum hieven lässt. – Dafür ist dann am Bremer Bahnhof in der DB-Lounge eine ganz reizende Mitreisende da, die mir hilft, die Scherben eines Glases zu beseitigen, das mir versehentlich heruntergefallen ist. Ausgleichende Gerechtigkeit.

„Das schöne Wort Hilfsbereitschaft“ – einer jener Fälle, in denen man ein Wort nicht wegen seines Klangs, wegen außergewöhnlicher Wortbildungsstruktur oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer gehobenen Stilebene schön findet, sondern weil es etwas Schönes bedeutet. Hilfsbereit zu sein heißt, immer darauf eingestellt zu sein, anderen zu helfen. Interessanterweise ist die Herkunft des Wortes helfen und auch des davon abgeleiteten Hilfe ungeklärt. Möglicherweise ist es verwandt mit dem Sanskritwort kalp (›zu etwas passen, zu etwas dienen, helfen‹ und mit lateinisch culpa (›Schuld, verursachter Schaden [dem man abhelfen muss]‹).

Hilfsbereitschaft ist eine Eigenschaft, die vornehme Menschen auszeichnet. Gemeint ist eine Vornehmheit des Herzens, nicht des Verstandes, und schon gar nicht des Standes. Hilfsbereitschaft interessiert sich nicht für soziale Unterschiede, sondern fragt danach, wo sie gebraucht werden könnte. Das wusste schon der sprichwörtliche barmherzige Samariter (Luk. 10,30–35).

Mein in dieser Kolumne schon mehrfach zu Wort gekommener Großvater pflegte zu erzählen, dass er, in bereits fortgeschrittenem Alter, an der Garderobe Mühe hatte, in seinen Mantel zu kommen. Eine junge Kollegin stand neben ihm und sah zu. Als er es endlich doch geschafft hatte, sagte er zu ihr: „Sie hätten mir ruhig helfen können.“ – „Eine Dame hilft einem Herrn nicht in den Mantel“, erwiderte sie. Und er: „Wären Sie eine Dame, hätten Sie mir geholfen.“

Einfordern oder gar einklagen kann man Hilfsbereitschaft nicht. Auch nicht von Taxifahrern, die das Wort Hilfsbereitschaft oder seinen Sinn nicht kennen. Merkwürdig nur, dass sich just am Vechtaer Bahnhof bei mir ebenfalls eine Wortlücke auftat: das schöne Wort Trinkgeld samt seiner Bedeutung war momentan aus meinem aktiven Wortschatz verschwunden.    ⋄    Jochen A. Bär

(250) 7. September – Rosenduft

Harald Rösler aus Steinfeld schlug das Wort Rosenduft für das „Jahr der Wörter“ vor. Ein schönes Wort vor allem deshalb, weil es schöne Assoziationen wachruft: Wer glaubt nicht allein schon beim Hören den süßen Duft der Rose tatsächlich zu riechen?

Die Rose ist die namensgebende Pflanzengattung der Familie der Rosengewächse (lateinisch Rosaceae), zu denen, der Laie glaubt es kaum, auch bekannte Obstarten wie Apfel, Birne, Brombeere, Himbeere, Kirsche, Pflaume, Mandel und andere zählen. Die Gattung der Rosen im engeren Sinne umfasst je nach Auffassung zwischen 100 und 250 Arten. Unter den eigens gezüchteten Edelrosen gibt es Schönheiten mit so klangvollen Namen wie Heidefeuer, Sommerwind, Berolina, Lavinia, Fairy Prince oder Duchess Of Portland.

Das Wort Rose, das immer schon die Bezeichnung für die Blume war, kommt über das Lateinische (rosa) und das Griechische (rhodon – daher der in Vechta und Umgebung bestens bekannte Rhododendron, wörtlich der ›Rosenbaum‹, nicht allerdings der Name der Insel Rhodos) wohl aus einer kleinasiatischen Sprache zu uns. Duft bedeutet ursprünglich ›Dunst, Nebel‹ und bekommt seine heutige Bedeutung ›Wohlgeruch, Ausdünstung angenehm riechender Pflanzen‹ erst im 18. Jahrhundert. Noch bis ins 19. Jahrhundert findet man aber in der Literatur die alte Bedeutung ›Dunst‹, beispielsweise bei Goethe: „Der Mond von einem Wolkenhügel | Sah kläglich aus dem Duft hervor, | Die Winde schwangen leise Flügel, | Umsausten schauerlich mein Ohr“.

In der Lyrik spielen selbstverständlich auch die Rosen eine bedeutende Rolle, beispielsweise bei Stefan George, in einem der schönsten Herbstgedichte deutscher Sprache: „Es lacht in dem steigenden jahr dir | Der duft aus dem garten noch leis. | Flicht in dem flatternden haar dir | Eppich und ehrenpreis. || Die wehende saat ist wie gold noch · | Vielleicht nicht so hoch mehr und reich · | Rosen begrüssen dich hold noch · | Ward auch ihr glanz etwas bleich. || Verschweigen wir was uns verwehrt ist · | Geloben wir glücklich zu sein | Wenn auch nicht mehr uns beschert ist | Als noch ein rundgang zu zwein.“

Über Rosen und Rosendüfte könnte man selbstverständlich noch unendlich viel mehr Worte verlieren; aber kein Wort reicht doch hin, um die Realität ganz treffend zu erfassen. Am Ende bleibt mit der amerikanischen Schrift­stel­lerin, Verlegerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein nur zu sagen: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ (im Original von 1922: „Rose is a rose is a rose is a rose“).    ⋄    Jochen A. Bär

(251) 8. September – saumselig

Was für ein schönes klangvolles Wort für eine doch eher unerfreuliche Eigenschaft! Das Adjektiv könnte mit seinem zweiten Wortbestandteil selig (falsche) Assoziationen von einem Menschen wecken, der sich selig seiner Trödelei und Pflichtvergessenheit hingibt. Tatsächlich bedeutet saumselig aber einfach nur ›im Rückstand befindlich, nachlässig‹. Schlechte Karten hat daher, wer beim Pokémon-Spiel ein Monster namens Regigigas sein Eigen nennt. Es zeichnet sich laut Spielanleitung durch die Spezialfähigkeit saumselig aus und bedeutet für den Spieler so viel wie ›langsamer Start‹.

Saum als erster Wortbestandteil hängt bedeutungsmäßig nicht mit der Begrenzung durch einen Saum zusammen, und auch nicht mit der Tätigkeit, ein Kleidungsstück zu säumen (verwandt mit englisch to sew und lateinisch suere, die beide ›nähen‹ bedeuten), sondern geht zurück auf das ausdrucksgleiche Verb säumen (›sich aufhalten‹), das sich nur noch im älteren Sprachgebrauch findet und dessen Ursprung unbekannt ist.

„Bist untreu, Wilhelm, oder tot? | Wie lange willst du säumen?“ klagt Lenore in Gottfried August Bürgers gleichnamiger Ballade von 1773 ihren lange nicht heimkehrenden Bräutigam an. Heute kennen wir den zeitlichen Bezug nur noch bei dem Verb versäumen (im Sinne von ›zu spät kommen, etwas unterlassen oder verpassen‹).

Aber zurück zum aktuell noch in gehobener Sprache verwendeten Adjektiv saumselig. Der Wortbestandteil selig hat nichts mit glücklicher Selbstvergessenheit zu tun, sondern geht zurück auf -sal, ein Wortelement zur Bildung von Substantiven, wie es z. B. in Mühsal, Trübsal oder Wehsal vorkommt. Von solchen Substantiven können dann wiederum Adjektive durch das Anhängen des Suffixes -ig gebildet werden, wobei ein Umlaut zustande kommt: saum-sa(e)l-ig. Damit leitet sich das Wort also von einem heute nicht mehr bekannten Substantiv Saumsal ab (das noch bei Goethe begegnet).

Natürlich kann man spaßeshalber saumselig weiterhin als eine Wortzusammensetzung behandeln, analog etwa zu dem sprachhistorisch viel jüngeren Kompositum weinselig. So geschehen im eher bierseligen Köln. Eine dort ansässige Schneiderei namens Saumselig fertigt für die Kundschaft individuelle maßgeschneiderte Mode an und vermittelt durch die Namenwahl, dass man mit Begeisterung bei der Sache ist und hier förmlich in Säumen schwelgt. Einer kritischen sprachwissenschaftlichen Betrachtung hält dieser Ansatz freilich nicht stand, aber darum ging es ja auch nicht bei diesem feinen Wortspiel.    ⋄    Kirsten Grote-Bär

(252) 9. September – Sinekure

Unser heutiges Wort stammt aus dem Lateinischen. Seine beiden Bestandteile sind die lateinischen Wörter sine (›ohne‹) und cura ›Sorge‹. Man versteht unter einer Sinekure eine Pfründe, das heißt ein Amt, das mit Einkünften verbunden ist, in der Regel aber wenige oder sogar überhaupt keine Verpflichtungen mit sich bringt. Ursprünglich war die Pfründe ein kirchliches Amt. Das Wort geht über mittelhochdeutsch pfrüende oder pfruonde, althochdeutsch pfruonta oder pfrovinta zurück auf das mittellateinische provenda. Zugrunde liegt lateinisch praebenda (›vom Staat zu zahlende Beihilfe‹, eigentlich ›das zu Gewährende‹). Heute versteht man unter einer Pfründe ohne weiteres auch ein weltliches Amt: meist eines, das seinem Inhaber viel einbringt, ohne dass er dafür viel tun muss.

Auch die Sinekure geht auf kirchliche Zusammenhänge zurück. Ursprünglich handelte es sich dabei nämlich um ein Kirchenamt sine cura animarum (›ohne Sorge für die Seelen‹, also ohne seelsorgerische Verpflichtung). Wie schon angedeutet: Der Inhaber bekommt Geld, muss aber nichts oder wenig arbeiten.

Im staatlichen Bereich kennt man die Sinekure später ebenfalls, beispielsweise bei Beamtenpositionen für verdiente Offiziere. Bedeutende Gelehrte konnten – meist von Landesherren, die an intellektuellem Prestige interessiert waren – auf Sinekure-Professuren berufen werden. Sie bezogen die Besoldung als Hochschullehrer, waren aber von Lehrverpflichtungen freigestellt. Ein Beispiel für solche Praxis war 1805 der Dichter, Publizist und Übersetzer Johann Heinrich Voß. Er wurde vom badischen Großherzog an die Universität Heidelberg berufen, erhielt einen hohen Ehrensold und konnte sich ganz der Forschung und seinen literarischen Arbeiten widmen.

Man würde es in Zeiten knapper Kassen kaum vermuten, aber auch heutzutage sind Sinekuren im öffentlichen Dienst gang und gäbe. Man muss lediglich eine Position erreichen, an der man schwer kündbar ist, und dann selbst die (innere) Kündigung vollziehen.

Vorgeschlagen hat das Wort Sinekure meine Hamburger Kollegin Dr. Jana Tereick. Sie wird ab 1. Oktober an der Universität Vechta eine Professur für Germanistische Didaktik vertreten. Aufgrund der Reformpläne der nieder­sächsi­schen Landesregierung, die ab dem kommenden Wintersemester das gesamte Studium für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen umkrempeln und zu einer erheblichen Mehrbelastung aller Beteiligten – der Studierenden nicht weniger als der Dozentinnen und Dozenten – führen, wird diese Professurvertretung alles andere sein als eine Sinekure.    ⋄    Jochen A. Bär

(253) 10. September – Obacht

Unser heutiges Wort, Obacht, ist aus mehreren Gründen von Interesse. Zum einen ist es hinsichtlich seines Vorkommens im Satz ziemlich eingeschränkt: Es dient als Ausruf: Obacht (›Achtung, Vorsicht‹), da kommt ein Auto oder als Teil einer festen Verbindung: (auf jemanden oder etwas) Obacht geben/haben mit der Bedeutung ›achten, aufpassen‹. Auch hinsichtlich seines Verwendungsraums ist es beschränkt, und zwar vor allem auf Süddeutschland, wie die Wörterbücher vermerken. Von seiner Herkunft her gesehen handelt es sich um die Kombination der Präposition (des „Verhältniswortes“) ob, verwandt mit auf, mit dem Substantiv (dem „Nomen, Namen-/Hauptwort“) Acht im Sinne von ›Aufmerksamkeit‹.

Diese Verbindung spiegelt sich in der heutigen Aussprache nicht mehr. Die erste Silbe ist o, die zweite bacht („o-bacht“). Das ist offenkundig damit zu begründen, dass den Sprechern die Zusammengesetztheit des Ausdrucks nicht mehr bewusst ist. Dies ist bei einer ganzen Reihe von Wörtern der Fall, etwa bei worüber (wo[r] + über), das „wo-rüber“ gesprochen wird, bei Interesse (lateinisch inter + esse ›von Wichtigkeit sein‹), gesprochen „int(e)-resse“, bei Abitur (ab + ire [neulateinisch iturire] ›ab-, weggehen‹), gesprochen „a-bitur“. Für Hebamme gibt es zwei Aussprachen, je nachdem ob das Wort als Zusammensetzung empfunden wird: „hep-amme“ oder nicht: „he-bamme“ (etymologisch geht der erste Bestandteil tatsächlich auf das Wort heben zurück, der zweite aber nicht auf Amme, sondern auf ana ›Ahnin, Großmutter‹: ›Großmutter, die das Neugeborene vom Boden aufhebt‹).

Die geschilderten Verhältnisse haben Konsequenzen für die Rechtschreibung, und zwar für den Bereich Silbentrennung, jetzt „Worttrennung am Zeilenende“ genannt. Bis zur Rechtschreibreform 1996 waren die Wörter nicht nach ihrer Lautung, ihren Sprechsilben, sondern nach ihrer etymologischen Zusammengesetztheit zu trennen: Ob-acht, wor-über, Inter-esse, Ab-itur, Heb-amme. Mit der Reform wurde dann „auch die Trennung nach Sprechsilben korrekt“, wenn „ein Wort nicht mehr als Zusammensetzung erkannt oder empfunden wird“, wie es in Kennziffer 167 des Rechtschreibdudens heißt: O-bacht, wo-rüber, Inte-resse, A-bitur, merkwürdigerweise jedoch nicht He-bamme.

Wie man bei O-bacht und A-bitur sieht, konnte 1996 auch ein einzelner Vokalbuchstabe am Wortanfang abgetrennt werden. Bei der Revision der Reform im Jahre 2004 wurde dies wieder rückgängig gemacht, sodass normgerecht jetzt nur Ob-acht und Ab-itur bzw. Abi-tur zu schreiben ist. Dies gilt auch für beobachten: jetzt wie schon vor 1996 nur be-ob-ach-ten, von 1996 bis 2004 auch beo-bachten.    ⋄    Wilfried Kürschner

(254) 11. September – Katastrophe

Umweltkatastrophe! Flutkatastrophe! Humanitäre Katastrophe! Was für eine Katastrophe!Katastrophenszenarien sind uns vertraut, wir erfahren von ihnen täglich in den Medien. Schwere Unglücke jeder Art nennen wir gemeinhin Katastrophen. Dabei unterliegt, was genau man unter einem schweren Unglück zu verstehen hat, durchaus der subjektiven Einschätzung. So befand beispielsweise einer der am meisten überschätzten Journalisten unserer Zeit, der jüngst verstorbene FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher: „Die Rechtschreibreform ist ein nationales Unglück“ (FAZ, 7. 8. 2004). Nationale Unglücke, hatte man stets gedacht, waren die Wahl Hitlers zum Reichskanzler, der Holocaust, die deutsche Teilung ...

Katastrophen im herkömmlichen Sinne werden durch den dabei entstandenen Schaden bestimmt, beispiels­weise die Anzahl der zu Tode gekommenen Personen oder auch durch die Höhe des Sachschadens. Aus der Sicht der Versicherungen, die für die Zerstörungen gegebenenfalls zahlen müssen, erscheint ein schweres Unwetter natürlich ebenfalls als (finanzielle) Katastrophe. In der Fachsprache des Versicherungswesens ist aber in solchen Fällen eher die Rede von Kumulschadenereignissen. Gar ein Großkumulschadenereignis war beispielsweise der Orkan Lothar, der am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 über Deutschland tobte und eine Schneise der Zerstörung hinterließ.

Das Wort Katastrophe kommt aus dem Griechischen; es bedeutet wörtlich ›Abwendung, Umkehr‹. In der antiken Tragödie und der an ihr orientierten Dramentheorie war die Katastrophe die entscheidende Wendung der Handlung (in der Regel: zum Schlimmen). Sie erfolgte üblicherweise am Ende des Stücks und bedeutete meist den Tod der Hauptfigur(en). Alltagssprachlich sprechen wir aber heute gern auch mal von einer kleinen oder mittleren Kata­stro­phe, wenn nur mal die Milch überkocht oder die Waschmaschine ausfällt.

Im Munde von Jugendlichen klingt bekanntlich unsere Sprache besonders. Dies gilt durchaus auch für das Wort Katastrophe. Unlängst hörte ich in der Düsseldorfer U-Bahn eine Schülerin ihren Freundinnen berichten: „Ey, was mir da gestern passiert ist – voll die Kata!“

Gemeint war irgendeine Kleinigkeit, die den Alltagsablauf kurzfristig durcheinanderbrachte; aber dass Kata­stro­phe, sei es als Vollwort oder eben – wie hier – als Kurzwort, gern aufbauschend verwendet wird, wurde ja schon angedeutet. Falls nötig, sei hier nur noch (wieder einmal betont), dass dergleichen Sprachbasteleien von Ju­gend­li­chen völlig normal sind und aus sprachwissenschaftlicher Sicht weder als Sprachverfall noch sonst als eine Kata­strophe gelten können.    ⋄    Jochen A. Bär

(255) 12. September – radebrechen

Unser heutiges Wort stellen wir auf Vorschlag von Lukas Niehaus (Lohne) vor. Ein merkwürdiges Wort allein schon durch seine Grammatik. Denn obwohl das Grundwort brechen stark, also unregelmäßig flektiert wird (brechen, brach, habe gebrochen), bildet radebrechen seine Formen nach der schwachen, das heißt regelmäßigen Flexion (radebrechen, radebrechte, habe geradebrecht). Also auch in der zweiten Person nicht du radebrichst, sondern du radebrechst.

Man hat es bei diesem Wort nicht unmittelbar mit einer Weiterbildung von brechen zu tun, sondern mit einer Ab­leitung von dem nicht mehr gebräuchlichen Substantiv Rad(e)breche: daher die schwache Flexion. Ursprünglich war radebrechen ein Rechtswort und bedeutete so viel wie rädern. Diese Hinrichtungsform bestand im Zerbrechen der Knochen mit einem großen, schweren Wagenrad, das der Scharfrichter auf die Gliedmaßen des Verurteilten fallen ließ. Anschließend wurde der solchermaßen Gequälte, schon tot oder noch lebend, zwischen die Speichen eines anderen Rades geflochten, was aufgrund der gebrochenen Glieder möglich war. Eine grausame Prozedur, die Straßenräubern, Mördern und Mordbrennern vorbehalten war und die man die Rad(e)breche (›das Brechen mit dem Rade‹) nannte; davon wurde dann eben das Verb rad(e)brechen abgeleitet.

Die letzte Hinrichtung durch Rädern fand 1841 in Preußen statt. Heute kennt man daher das Verb radebrechen – glücklicherweise – nur noch in der übertragenen Bedeutung ›eine (fremde) Sprache mühsam und unvollkommen sprechen‹. Der Gedanke, dass man Wortschatz und Grammatik „quälen“ könne, findet sich beispielsweise bei Ernst Moritz Arndt, der über seine Kindheit auf Rügen berichtet:

„Das Possierlichste [...] war [...] der Gebrauch der hoch­deutschen Sprache, welcher damals in jenem Inselchen auch für etwas Überaußes und Ungemeines galt und auch wohl gelten mußte, weil wenige damit ordentlich umzugehen verstanden, ohne dem Dativ und Akkusativ in einer Viertelstunde wenigstens einige hundert Maulschellen zu geben. Es gehörte nämlich unerläßlich zum guten Ton, wenigstens die ersten fünf bis zehn Minuten der Eröffnung und Versammlung einer Gesellschaft hochdeutsch zu radebrechen; erst wenn die erste Hitze der feierlichen Stimmung abgekühlt und die ersten Beklemmungen, welche der Überfluß von Komplimenten verursacht, über einer Tasse Kaffee verseufzt waren, stieg man wieder in den All­tagssocken seines gemütlichen Plattdeutsch hinunter.“    ⋄    Jochen A. Bär

(256) 13. September – Ungeziefer

Das Wort Ungeziefer wurde von meinem Vechtaer Kollegen Prof. Dr. Alwin Hanschmidt für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen. Ein Wort, bei dem man zunächst zweifellos annehmen würde, dass es aus dem Präfix un- und dem Substantiv Geziefer gebildet sei. Von un- weiß man, dass es nicht nur zur Verneinung dient, sondern auch zur Verstärkung (zum Beispiel in Unmenge oder in Unsumme), und darüber hinaus auch noch bedeuten kann, dass es die durch das Grundwort bezeichnete Sache zwar gibt, eigentlich aber nicht geben dürfte (z. B. in Unding oder auch in Unwort). Ungeziefer, so der Verdacht, wäre demnach Geziefer, das es besser nicht geben sollte.

Stellt sich nur die Frage: Was ist Geziefer? Es bedeutet so viel wie ›Vielzahl kleiner Tiere (vor allem von Insekten, Spinnen oder Ähnlichem)‹; beispielsweise ist in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften die Rede von „in der Sonne dunstenden Brombeerranken, zwischen denen es von unbekanntem Geziefer flog und wimmelte“. In bestimmten Dialekten kann es dem großen Duden zufolge auch ›(kleinere) nützliche Haustiere, (Klein)vieh‹ bedeu­ten. Zur Herkunft von Geziefer gibt das Dudenwörterbuch allerdings einen überraschenden Hinweis: Das Wort ist „rückgebildet aus Ungeziefer“. Das heißt: Das vermeintliche Grundwort ist gar kein solches, sondern Ungeziefer gab es früher als Geziefer.

In Wahrheit steckt in Ungeziefer wohl das althochdeutsche zebar (›Opfer, Opfertier‹); es bedeutet demnach ›das­jenige Tier (bzw. diejenige Menge von Tieren), das (bzw. die) sich nicht zum Opfern eignet‹, die man also der Gottheit nicht anbieten kann. Das un- in Ungeziefer hat demnach also doch verneinenden Charakter.

Aus linguistischer Sicht ist zu unserem Wort allerdings noch mehr zu sagen: Es hat nicht nur einen sachlichen Bedeutungskern (›Bestand an tierischen Schädlingen‹), sondern auch noch eine auffordernde Bedeutungs­kom­po­nente. Wie der Sprachwissenschaftler Fritz Hermanns gezeigt hat, impliziert Ungeziefer (ebenso wie auch Unkraut) unmittelbar: Es ist schädlich, und daher soll man es vertilgen.

Dieses „Sollen“ ist mit dem Wort im kollektiven Be­wusstsein verbunden, es ist ihm gleichsam eingeschrieben. Wer daher Menschen als Ungeziefer (als Ratten, Zecken oder Ähnliches) bezeichnet, der braucht gar nicht zu sagen, was seiner Meinung nach mit den Bezeichneten zu geschehen hat: Man versteht ihn auch so. Ungeziefervernichten: Das ist die Logik, die dem Holocaust und – bis heute – jeder so genannten „ethnischen Säuberung“ (ein zynisch beschönigender Ausdruck für Massenmord und andere Verbrechen) zugrunde liegt.    ⋄    Jochen A. Bär

(257) 14. September – Dolmetscherin

Das Wort Dolmetsch macht durch seine Herkunft seiner Bedeutung alle Ehre: es stammt aus einer kleinasiatischen Sprache der Mitanni und lautete in seiner ursprünglichen Form talami. Daraus entwickelte sich der nordtürkische Ausdruck tilmaç, für welches Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ folgende Bedeutung angibt: ›Mittelsmann, der die Verständigung zweier Parteien ermöglicht, die verschiedene Sprachen reden‹. Das ist der heutigen Verwendung des Wortes schon sehr nah. Dennoch dauerte es noch, bis das Wort in die deutsche Sprache aufgenommen wurde. Über die osmanischen Heerzüge fand es Eingang in die ungarische Sprache in der Form tolmács. Aus dem Ungarischen wurde es ins Mittelhochdeutsche übernommen, wo es seit dem 13. Jahr­hun­dert als dolmetsche Verwendung fand. Das Grimm’sche Wörterbuch nimmt hingegen eine Übernahme aus den slavischen Sprachen an, in denen ebenfalls Formen der magyarischen Version vorkommen: tolmač im Russischen, tłumacz im Polnischen oder tlumočník im Tschechischen.

Die spezifische Bedeutung des rein mündlichen Übertragens einer Sprache in die andere bekam das Wort Dol­metscher/-in aber erst später. Noch Luther versteht darunter in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530) die schriftliche Übersetzung. Heute ist das Dolmetschen die mündliche Übertragung gesprochener Rede im Gegensatz zur schriftlichen Übersetzung. Bei Konferenzen und Sitzungen von EU-Kommissionen wird zwischen den verschie­de­nen Sprachen häufig simultan gedolmetscht. Die Rede wird also fast in Echtzeit übertragen, was höchste Kon­zen­tration erfordert und mindestens zwei Dolmetscher/-innen pro Dolmetschkabine benötigt, die sich abwechseln.

In Zeiten der Globalisierung, Internationalisierung und gesellschaftlichen und individuellen Vielsprachigkeit helfen die über 1000 Dolmetscherinnen und Dolmetscher der Europäischen Union sich im Babel der Sprachen zu ver­stän­digen. Ihre Berufsbezeichnung ist in ihrer Geschichte dabei so vielfältig wie die Sprachen, aus denen und in die ge­dol­metscht wird. Der Dolmetschberuf ist traditionell weiblich dominiert, da das Übersetzen von Texten oder die Übertragung von Rede als etwas Sekundäres, Abgeleitetes zu einem „männlichen Original“ gesehen wurde. Auch die Beherrschung moderner Fremdsprachen wie Französisch oder Englisch war Teil der Frauenbildung im 19. Jahrhundert, im Gegensatz zu einer altsprachlichen Bildung der Männer. Frauen waren also gut ausgebildet, um diese Funktion zu übernehmen.

Auch heute sind 70 % der im Bereich Dolmetschen bei der EU Tätigen weiblich, weshalb auch der Titel dieser Glosse dazu passend gewählt wurde – die Männer sind selbstverständlich mitge­meint.    ⋄    Jana-Katharina Mende

(258) 15. September – fürderhin

Das schöne Wort fürderhin behandeln wir auf Vorschlag von Dr. Nicola Schorn (Universität Vechta). Es gehört der gehobenen Stilebene an und ist dabei zu veralten. Für viele gehört es schon heute nicht mehr zum aktiven Wort­schatz, und wir liegen sicherlich nicht falsch, wenn wir annehmen, dass es Zeitgenossen gibt, die es auch passiv nicht mehr verstehen.

Der große Duden erklärt es mit der Umschreibung ›in Zukunft‹ und präzisiert: „vom gegenwärtigen Zeitpunkt an oder von einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit aus“. „Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin“, schrieb Friedrich Nietzsche 1888 an seinen Freund Carl Fuchs – also von dem im Augenblick des Schreibens gegenwärtigen Zeitpunkt an. Demgegenüber erscheint fürderhin als ›zukünftig von einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt aus betrachtet‹ in folgendem Zitat: „Eines Tages [...] lernte er bei einem Vortrag über ,Winke zur Veredlung der sinnlichen Triebe in der Tierwelt‘ die Kandidatin der Zoo­logie kennen, die ihm von der Vorsehung selbst gesandt schien, seinen Lebensweg fürderhin zu begleiten.“ So steht es in der kurzen Erzählung Die Affenschande von Erich Mühsam (erschienen 1928, wenige Jahre bevor der Autor als eines der frühen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Konzentrationslager Oranienburg ermordet wurde).

Dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm zufolge erscheint fürderhin erstmals bei dem Barockdichter Je­saias Rompler von Löwenhalt, der 1633 in Straßburg eine der ältesten deutschen Sprachpflegegesellschaften, die „Aufrichtige Tannengesellschaft“, mitbegründete. Rompler schrieb – etymologisch korrekt – förterhin: Das Wort ist eine Zusammensetzung aus fürder und hin, und fürder ist eine alte Steigerungsform (nämlich der Komparativ) zu fort. Wie man sieht, ist fort, das wir heutzutage nur noch als Partikel, das heißt als undeklinierbares Wort kennen, ursprünglich ein Adjektiv gewesen.

Fürder, das oft als Kurzform von fürderhin missverstanden wird, in Wirklichkeit aber eben seine Grundform ist, ließ sich noch im 19. Jahrhundert deklinieren: „Ohne alle fürdere [›weitere‹] Rücksicht“, heißt es beispielsweise in der Erzählung Die drei gerechten Kammacher von Gottfried Keller (erschienen 1856; nach neuer Rechtschreibung müsste man „Kammmacher“ schreiben).    ⋄    Jochen A. Bär

(259) 16. September – Hochzeit

Nicht nur das, wofür unser heutiges Wort steht, ist wundervoll („der schönste Tag im Leben“: manche finden ihn so schön, dass sie ihn gleich mehrfach erleben wollen), sondern auch das Wort selbst ist interessant. Das mittel­hoch­deutsche hôchgezît, auf das es zurückgeht, bedeutete überhaupt ›hohe Zeit, in der man fröhlich ist: Fest, festliche Veranstaltung‹, insbesondere das höfische Fest, bei dem es Ritterspiele, Minnesang und Zechereien gab. So ist beispielsweise im Nibelungenlied die Rede „von fröuden, hôchgezîten“, aber auch vom Gegenteil: „von weinen und von klagen“.

Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung von hôchgezît bzw. Hochzeit dann auf ein ganz bestimmtes Fest hin verengt: das der Eheschließung. Die ursprüngliche Bedeutung, insbesondere die Verbindung mit dem Adjektiv hoch, ging so sehr verloren, dass man, anders als in jedem anderen Wort, in dem hoch steckt, bei Hochzeit das o kurz ausspricht. Im Mittelhochdeutschen hôchgezît war es noch lang gewesen, wie das Akzentzeichen erkennen lässt: Solche Zirkumflexe stehen bei mittelhochdeutschen Wörtern immer für einen langen Vokal.

Hochzeitstage sind wie Geburtstage (vgl. unsere Kolumne Nr. 241 vom 29. August) ein Anlass zum Feiern. Be­sondere Jubiläen wie der 25. oder 50. Hochzeitstag haben eigene Namen (Silberhochzeit, Goldene Hochzeit). Und da man immer gern feiert, wurden auch weitere, selbst „unrunde“ Hochzeitstage mit Namen versehen. So heißt der 10. Hochzeitstag Rosenhochzeit, der 30. Perlenhochzeit, der 40. Rubinhochzeit, der 55. Juwelen- oder auch Platin­hochzeit, der 60. Diamantene, der 65. Eiserne und der 70. Gnadenhochzeit. Die Juwelier- und Floristikbranche haben darüber hinaus – warum wohl nur? – für fast jeden Hochzeitstag eine Bezeichnung erfunden. So heißt bei­spielsweise der 16. Hochzeitstag Saphirhochzeit.

Kein kommerzielles Interesse verfolgte mein verstorbener Kollege Dr. Uwe Förster, als er – seinerzeit Leiter des Sprachberatungsdienstes der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden – die Frage nach dem Namen des 100. Hochzeitstages beantwortete. Ein junges Paar wollte am selben Tag heiraten, an dem die Urgroßeltern der Braut dieses Jubiläum gefeiert hätten. Förster schrieb damals: „Den hundertsten Hochzeitstag nennen wir Him­mel­hochzeit, weil er vom ersten so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde und weil wir hoffen und wünschen, dass die lieben Verstorbenen nun im Himmel sind.“

Na, lieber Leser – ja, die Herren der Schöpfung sind gemeint, denn es betrifft ja klischeemäßig vor allem sie –: Ihren wievielten Hochzeitstag haben Sie just heute vergessen?    ⋄    Jochen A. Bär

(260) 17. September – Börse

Das lateinische Wort für ›Reichtum, Vermögen, Geld‹ ist pecunia. Es geht auf pecu(s) (›Kleintier‹) zurück, mithin auf die gleiche Wurzel, die dem germanischen fehu, althochdeutsch fihu, neuhochdeutsch Vieh zugrunde liegt. Reich­tum war also für die alten Römer ursprünglich ein Vermögen an Vieh, und auch dem germanischen Rechtsraum war diese Vorstellung nicht fremd. Dort nämlich – im Karolingerreich des 9. Jahrhunderts – wurde fehu im Sinne von ›Besitz; (erbliches) Lehen‹ verstanden. Davon abgeleitet wurde das mittellateinische Wort feodum oder feudum, das wir noch in Ausdrücken wie feudal und Feudalismus kennen.

Heutzutage haben allerdings die meisten vermögenden Leute keinen Viehbesitz mehr, sondern eher Aktien, sei es von ihrem Autohersteller oder von ihrem Fußballverein. Solche Wertpapiere kauft und verkauft man an der Börse – wobei sich selten genug ein Börsianer Gedanken über die Herkunft des Wortes machen wird, das seinen Arbeits­platz bezeichnet. Gemeinhin wird er davon ausgehen, dass es sich um eine übertragene Verwendung von Börse im Sinne von ›Geldbeutel‹ handle, und dies für ausreichend halten; immerhin führt ja die Etymologie über mittel­la­tei­nisch bursa auf griechisch býrsa (›abgezogene Haut, Fell‹) zurück, also das Material, aus dem man Beutel macht. Aber die Wortgeschichte verlief weitaus interessanter: Eine Brügger Kaufmannsfamilie, die in ihrem Wappen drei Geldbeutel führte, erhielt den Beinamen van de Borse, und danach wurden der Platz vor ihrem Haus sowie die dort stattfindenden Zusammenkünfte der Kaufleute borse genannt. 1531 ging die Bezeichnung auf ein in Antwerpen errichtetes Handelshaus über, und noch im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts wird niederländisch borse bzw. beurs im Sinne von ›Handelzusammenkunft, Handelsplatz‹ ins Deutsche übernommen. Man hatte hier ein Vorbild in dem älteren deutschen burse, das gleichfalls vom mittellateinischen bursa kam und neben ›Geldbeutel‹ auch so viel wie ›Wohnhaus, Gemeinschaft von Studenten‹ bedeutete (vermutlich nach der dort praktizierten kollektiven Kasse, dem gemeinsamen Beutel).

Der Einzelne, der zu einer solchen Gemeinschaft gehörte, wurde ab dem 17. Jahrhundert dann der Burse oder – mit dem üblichen frühneuhochdeutschen Wandel von s zu sch nach r – der Bursche genannt. Auf diese Weise kam die deutsche Sprache gleich zu zwei neuen Wörtern, denn da mit Bursche aufgrund der Bedeutungsentwicklung kein Geldbeutel mehr zu bezeichnen war, machte man im 18. Jahrhundert wiederum eine Anleihe bei den niederländischen Nachbarn: beurs wurde zum zweiten Mal entlehnt, und erst jetzt in der Bedeutung ›Geldtasche‹ ...    ⋄    Jochen A. Bär

(261) 18. September – du

Dututhoutyti: So oder ähnlich lautet das Personalpronomen der zweiten Person in den meisten indoeuropäischen Sprachen. Es war, wie es im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm heißt, „die einfache und natürliche anrede der ersten person an die zweite und ursprünglich wuszte man von keiner andern“. (Die eigenwillige Schreibung ist original.) Erst im 9. Jahrhundert unserer Zeit fing man im Deutschen an, die zweite Person des Plurals zu verwenden, um Ehrerbietung auszudrücken: Man redete eine höhergestellte Person mit ihr statt mit du an. Im 17. Jahrhundert wurde dann das Anredesystem erweitert: Man konnte auch die Personalpronomina der dritten Person Singular (er und sie) gebrauchen, um jemanden anzusprechen. Dies war zunächst ebenfalls durchaus ehrerbietig – man „erzte“ und „siezte“ sich von Gleich zu Gleich – und wurde erst nach und nach zur üblichen Anrede für Untergebene und Dienstboten – die zur Anrede für ihre Herrschaft dann das Sie im Plural verwenden mussten. Also beispielsweise: „Johann, komme Er hierher!“ – „Was befehlen Sie, gnädige Frau?“

Das Deutsche Wörterbuch kommentiert diese Sprachentwicklung ganz gemäß den demokratischen Anschau­un­gen der Brüder Grimm: „es ward dadurch allerdings möglich die abstufungen der geselligen verhältnisse feiner auszudrücken, aber das widernatürliche und ungrammatische dieser steigerungen die jetzt eingewurzelt sind, läszt sich nicht verwischen.“

In der neueren Sprachgeschichte ist von dem sehr differenzierten Anredesystem des 17. und 18. Jahrhunderts nur noch die Unterscheidung von du und Sie geblieben, und in der allerneuesten ist das Sie in etlichen Lebens­be­rei­chen völlig auf dem Rückzug. Heute gilt: Wer jung sein oder wirken will, duzt – sei es auf Partys oder in der Werbung. So weit, dass man ohne Unterschiede alle Menschen duzen kann, ist die Gleichmacherei dann allerdings doch noch nicht gediehen: Noch können sich erwachsene Menschen das Du verbitten.

In der Philosophie spielt das Du seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Rolle. Nach ersten Ansätzen der Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel schreibt Ludwig Feuerbach (F. A. Lange zufolge der Erfinder des „Tuismus“) im Jahr 1843: „Der Idealismus hat [...] recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolierten, als für sich seiendem Wesen, als Seele fixierten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten will. Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen.“    ⋄    Jochen A. Bär

(262) 19. September – geschmeidig

Das Wort geschmeidig, für unsere Reihe vorgeschlagen von Diana Diephaus aus Vechta, leitet sich nicht etwa, wie man vielleicht denken könnte, von Geschmeide ab, sondern, parallel zu Geschmeide (wörtlich: ›das Geschmiedete‹), von schmieden. Das mittelhochdeutsche gesmîdec, auf das unser geschmeidig zurückgeht, bedeutete wörtlich: ›leicht zu schmieden, gut zu bearbeiten‹.

Heute hat das Wort mehrere Bedeutungen. Zunächst heißt es so viel wie ›biegsam, schmiegsam und glatt; weich und dabei voll Spannkraft‹ (zum Beispiel in geschmeidiges Leder oder die Haut mit Öl geschmeidig halten). Von der Materialität wird es dann auf die körperliche Konstitution übertragen und bedeutet ›biegsame, gelenkige Glieder be­sitzend und daher sehr gewandt; mit gleitenden, kraftvollen und dabei anmutigen Bewegungen‹ (beispielsweise in geschmeidig wie eine Katze oder sich geschmeidig bewegen). Drittens erfolgt dann eine weitere Übertragung von der Bewegung auf das Verhalten allgemein. In dieser Verwendungsweise heißt geschmeidig (nicht selten ab­schät­zig) ›anpassungsfähig, wendig im Gespräch oder Verhalten‹ (jemand redet geschmeidig, ist ein geschmeidiger Di­plomat oder wird – so nachzulesen bei Lion Feuchtwanger – durch ein dickes Trinkgeld geschmeidig).

In salopper Ausdrucksweise kommt geschmeidig (in der zuletzt genannten Bedeutung) heutzutage gern auch in der Redewendung sei bzw. bleib doch mal geschmeidig vor. Das heißt dann so viel wie ›sei doch nicht so ver­krampft, sei/bleib doch mal locker, reg dich nicht so auf‹.

Aber auch die ganz ursprüngliche, nämlich handwerkliche Wortbedeutung kommt heute bisweilen wieder zum Tra­gen. So gibt es beispielsweise in Düsseldorf ein Schmuckatelier mit dem Namen Geschmeidig. Ein Auszug aus der Selbstdarstellung: „Aktuelles Lieblingsstück: aus farbigen Schnüren handgeknüpfte Silberperlenarmbänder un­terschiedlicher Machart, Stärke und Größe. Eine perfekte Symbiose aus klassischem, edlem Gold oder Silber mit wandelbarem, robustem Textil. Schön als einzelnes Highlight aber auch ein echtes Sammlerstück, denn durch die vielen Farben und die unterschiedlichen Styles entstehen immer neue Kreationen. Aktuell treffen dezente nude, taupe und berry Töne auf Neon Highlights. Wer es noch ‚uniquer‘ mag, kann sich sein Schmuckstück persona­li­sie­ren lassen. [...] Wie viele der Geschmeidig Modelle haben sie unisex Charakter und werden gleichermaßen von Männern und Frauen getragen.“

In der Tat geschmeidig: nicht zuletzt im Umgang mit der deutschen Sprache ...    ⋄    Jochen A. Bär

(263) 20. September – Firlefanz

Manchmal schreiben sich die Artikel für das „Jahr der Wörter“ wie von selbst, manchmal braucht es einen langen Anlauf, bis etwas einigermaßen Gerundetes zuerst mit dem Bleistift aufs Konzeptpapier gebracht ist und danach in die elektronische Weiterverarbeitung gegeben werden kann. So auch beim heutigen Beitrag. Dass er in mein Kontingent von dreißig Artikeln gehört, weiß ich seit Jahresanfang, als mir Jochen A. Bär, der Wörterjahrerfinder, anbot, einige Wörter zu übernehmen. Um jede Art von Rosinenpickerei zu vermeiden, verfuhr ich mechanisch und erbat die Wörter, die in seiner Liste jeweils für den 10. und den 20. eines Monats notiert waren. Hinzu kamen einige Vechta-spezifische Wörter und ein paar Namen christlicher Feiertage.

Daher also heute, am 20. September, Firlefanz (gleich von drei Personen vorgeschlagen: von Maria Deters, Felix Penkhues und Prof. Dr. Martin Winter). Das umgangssprachlich gebrauchte Wort, das laut dem Universalwörterbuch des Duden einen abwertenden Beigeschmack hat, bezeichnet,auf konkrete Dinge bezogen, ›überflüssiges oder wertloses Zeug; Tand, Flitter‹. Im abstrakteren Sinn meint es ›Unsinn, törichtes Zeug, Gerede, Gebaren‹ („Das ist doch alles Firlefanz“). Selten wird es mit Bezug auf einen Menschen gebraucht: ›jemand, der nur Torheiten im Sinn hat, mit dem nicht viel anzufangen ist‹.

Das Wort kommt bereits im Spätmittelhochdeutschen, also im 13./14. Jahrhundert, in der Form firlifanz vor, wo es die Bezeichnung für einen lustigen Springtanz ist. Die Herkunft dieses Wortes sei allerdings unbekannt – sagt der Duden. Wahrig weiß mehr: Mittelhochdeutsch werde die Form virlefanz geschrieben, sie beziehe sich auf virlei (›ein Tanz‹), ein Wort, das auf altfranzösisch virelai (›Ringellied‹) zurückgehe. Der Ausgang -fanz sei beeinflusst von mittelhochdeutsch tanz (›Tanz‹). Dies bestätigt Pfeifer in seinem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (1989) im Wesentlichen, stellt aber in Frage, ob der zweite Wortbestandteil als Angleichung an tanz anzusehen ist. „Vielleicht ist eher an Einfluss von mhd. vanz, alevanz ›hergelaufener Schalk‹ zu denken, dessen weitere Bedeutung ›Schalkheit, Possen‹ (vgl. neuhochdeutsch Alfanzerei ›Albernheit‹) auch auf Firlefanz übergegangen sein kann.“ (Pfeifers Wörterbuch ist, ergänzt und aktualisiert, übrigens auch im Internet frei zugänglich, und zwar als Teil des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache: www.dwds.de.)

Im jüngsten großen Wörterbuch mit ausgeprägten wortgeschichtlichen Bezügen, der Neubearbeitung des Grimm’schen Deutschen Wörterbuchs, wird die Geschichte unseres Wortes noch deutlicher ins Hypothetisch-Ungewisse gerückt: „etymologie unsicher; vermutlich ...; einfluß wird angenommenvon ... oder von ...“. Bei diesem Werk handelt es sich um eine neubearbeitete Fassung der Wörterstrecke, die von Jacob Grimm (Wörter mit den Anfangsbuchstaben A–C, E–frucht) und Wilhelm Grimm (D) stammt;der Buchstabe F ist bis ans Ende (Fux) weitergeführt. Es erscheint seit 1965 und ist bis auf wenige noch ausstehende Lieferungen abgeschlossen (und leider nicht im Internet vorhanden).

Die Neubearbeitung folgt im Ganzen den für die Erstausgabe, die zwischen 1852 und 1960/1971 (!) erschien (und im Internet frei zugänglich ist: http://woerterbuchnetz.de/DWB), gültigen Prinzipien, unter anderem sichtbar an der durchgängigen Kleinschreibung auch der Substantive (außer den Eigennamen). Allerdings wird jetzt ß geschrieben, wo die Erstausgabe noch sz hatte, z. B. fusz – fuß, flusz – fluß (und nicht etwa Fluss, wie wir heute schreiben).    ⋄    Wilfried Kürschner

(264) 21. September – Kakadu

Unser heutiges Wort wurde von der ehemaligen Klasse 4a der Grundschule Sankt Hülfe-Heede vorgeschlagen, „weil es witzig klingt“. Die Kinder sind nunmehr, nach dem Ende der Ferien, wohl allesamt in den weiterführenden Schulen: Auf diesem Wege nachträglich noch alles Gute zum Schulbeginn dort!

Der Name der vor allem in Australien heimischen, 21 Arten umfassenden Papageien-Familie ist über das Nie­der­ländische kaketoe aus dem Malaiischen zu uns gekommen: Dort heißen die Vögel (vermutlich lautmalend) kaka(k)­tua. Sie fressen überwiegend Samen und Früchte, einige Arten auch Wurzeln oder Insektenlarven, leben gesellig (oft in großen Schwärmen), sind aber monogam: eine einmal eingegangene Paarbindung dauert norma­ler­weise an, bis einer der Partner stirbt.

Einige Kakadus sind sehr verspielt, turnen an Zweigen, Seilen oder Antennen und machen Kapriolen. In Austra­lien kennt man daher die Redewendung playing the galah im Sinne von ›den Hanswurst spielen‹. (Galah ist im australischen Englisch das Wort für den Rosakakadu, lateinisch: Eolophus roseicapillus.)

Dass das Wort Kakadu witzig klingt und zu Wortspielen geradezu einlädt, wusste niemand besser als Joachim Ringelnatz. In seiner Grotesken-Sammlung Nervosipopel (1924) erscheint die Figur Quiekenbach, die, sich aus dem Fenster lehnend, „unausgesetzt in die Nacht hinaus laut konjugierte: ‚Kakaich, Kakadu, Kakaer, sie, es –‘“

Als Personenname (Vorname) ist Kakadu allerdings offenbar bislang noch nicht in Erwägung gezogen worden. Anders als der Name eines anderen australischen Vogels. In meiner Eigenschaft als Sprachberater erreichte mich einmal die Anfrage junger Eltern, die gerade einen Australienurlaub hinter sich hatten: „Wir wollen unsere Tochter Coocaburra nennen. Das Standesamt ist dagegen. Können Sie uns helfen?“ – Meine Antwort damals: „Leider nicht. Das Wort Kookaburra stammt aus einer australischen Eingeborenensprache. Der Kookaburra (lateinisch Dacelo gigas, englisch Laughing Jack, deutsch Lachender Hans) ist ein zur Ordnung der Rackenvögel und zur Familie der Eisvögel gehörender, etwa krähengroßer Vogel, der in Australien (vor allem in Süd- und Ostaustralien) vorkommt und durch seinen charakteristischen, lautem Gelächter ähnlichen Ruf bekannt ist.

Abgesehen davon, dass Tierbe­zeich­nun­gen, die als Vornamen nicht traditionell verwurzelt sind (z. B. Wolf), nicht als Vornamen gegeben werden sollten, ist Kookaburra eindeutig männlich (auch im Englischen, wie ein australisches Volkslied erkennen lässt: „Kookaburra sits on an old gum tree, merry, merry king of the bush is he ...“) und kommt deshalb als weiblicher Vorname nicht in Frage.“    ⋄    Jochen A. Bär

(265) 22. September – Ratzefummel

Das Wort Ratzefummel, ein klassisches Schülerwort, wurde gleich zweimal für das „Jahr der Wörter“ vorge­schla­gen: von der (mittlerweile ehemaligen) Klasse 4c der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage und von den Schü­le­rin­nen und Schülern der Grundschule Rechterfeld.

Wer Ratzefummel googelt, findet verschiedene – tendenziell weniger hilfreiche – Informationen über seine Be­deu­tung, Herkunft, Zusammensetzung, Verwendungsweise und so weiter. Tatsache ist, dass sich selbst Sprach­wis­sen­schaft­ler uneins über den Ursprung des Wortes sind.

Dass Menschen aus verschiedenen Orten – von Schleswig-Holstein bis Bayern und von Nordrhein-Westfalen bis Sachsen – behaupten, der Ausdruck sei eine kennzeichnende regionale Variante, lässt zumindest darauf schließen, dass er weit verbreitet und nicht dialektal geprägt ist. Kleinere, eigens durchgeführte Umfragen im Bekanntenkreis haben außerdem bewiesen (natürlich nicht in einem streng wissenschaftlichen Sinne), dass das Wort Ratze­fum­mel schon in den 1960er Jahren unter Schulkindern gebräuchlich war, um damit – wie heute – einen ›Radiergummi‹ zu bezeichnen.

Die Kurzform von Ratzefummel ist Ratze. Zwischen dem mittelhochdeutschen Wort ratz(e) (althochdeutsch ratza) für ›Ratte‹ und der Kurzform Ratze für ›Radiergummi‹ kann allerdings kein Zusammenhang hergestellt werden. Eher noch lässt sich vermuten, dass Ratzefummel in Anlehnung an ratzen und fummeln gebildet worden ist. Mit ratzen ist in diesem Zusammenhang nicht der umgangssprachliche Ausdruck für ›fest und lange schlafen‹ gemeint. Das Erstglied ratzen in dem Substantiv Ratzefummel bezeichnet wahrscheinlich vielmehr das ›Ratschen‹, welches zu hören ist, wenn ein Radiergummi in schnellen Bewegungen, mit den Händen über ein Blatt Papier fummelnd, bewegt wird, um beispielsweise Bleistiftstriche zu entfernen. So könnte es für möglich gehalten werden, dass ratzen die lautmalerische Entsprechung von radieren ist, das gegen Ende des 15. Jahrhunderts aus dem lateinischen Verb radere entlehnt wurde. Radere bedeutet ›(aus)kratzen‹ oder ›(ab)schaben‹, wobei eben jenes ratschende Geräusch zu Gehör gelangt.

Dass Ratzefummel dann und wann auch als Spitzname für den emeritierten Papst Benedikt XVI., mit bürger­li­chem Namen: Joseph Ratzinger – Verwendung findet, ist eine andere (vor dem Hintergrund sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche: unheilige) Geschichte.    ⋄    David Römer

(266) 23. September – fertig

Wenn man mehr auf das Wort hört als das Schriftbild zu betrachten, kann man darauf kommen: fertig hängt mit fahren, Fahrt und Fährte zusammen. Es bedeutete ursprünglich ›zur Fahrt, zum Aufbruch bereit, gerüstet‹, dann überhaupt ›bereit zu etwas‹ und schließlich ›ausgereift, zu Ende gearbeitet (und daher gebrauchsbereit)‹. Im 18. Jahrhundert bedeutete das Wort dann auch ›tot‹ – F. Schiller, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783): „Neun von den Unsern sind fertig. Ich selbst bin am linken Ohrlappen gestreift“ – und ›betrunken‹ – F. Nicolai, Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773–76): „Der Herr von Haberwald machte sich mit noch ein paar Flaschen vollends fertig und ward in ein Bette gebracht, um seinen Rausch auszuschlafen“. In Verwendungen wie diesen wird man die Grundlage der heute ebenfalls üblichen Bedeutung ›erledigt, erschöpft, am Ende der Kräfte‹ sehen dürfen.

Eine der bekanntesten Bedeutungen von fertig ist ›so weit, dass nichts mehr zu tun übrig bleibt‹. Der in der jüngs­ten Sprachgeschichte sicherlich populärste Beleg für diese Wortverwendung stammt aus der legendären Stand­pauke, die der damalige Trainer des 1. FC Bayern München am 10. März 1998 seiner Mannschaft hielt. Der Italiener Giovanni Trapattoni, des Deutschen gerade so weit mächtig, dass man verstehen konnte, was er meinte, prangerte auf einer dreieinhalbminütigen Pressekonferenz das larmoyante Verhalten („Diese Spieler beklagen mehr als spiel’“), die Unzuverlässigkeit („Was erlauben Strunz!“) und die mangelnde Einsatzbereitschaft („In diese Spiel wie zwei oder drei diese Spieler waren schwach wie eine Flasche leer!“) der überbezahlten Fußballprofis. Trapattoni beendete seinen Wutanfall mit „Ich habe fertig!“, einer Wort-für-Wort-Übersetzung des italienischen ho finito (›ich bin fertig‹).

Das „Trap-Deutsch“ wurde in Politik und Gesellschaft sofort begeistert aufgegriffen. Das Kabarett zitierte es; die SPD verwendete es im Bundestagswahlkampf in Verbindung mit Helmut Kohl, der dann am 28. September nach 16 Jahren Kanzlerschaft tatsächlich „fertig hatte“; Abiturientinnen und Abiturienten druckten es auf T-Shirts.

Trapattoni hat sein besonderes Verhältnis zur Sprache bei anderer Gelegenheit – in einer Medienschelte während seiner Zeit als Cheftrainer bei RB Salzburg – selbst auf den Punkt gebracht: „Wörter sind sehr einfach. Wer kann machen, machen. Wer kann nicht machen, sprechen. Wer kann nicht sprechen, der schreiben.“

Das „Jahr der Wörter“ hat noch nicht fertig; wir müssen noch etwas weitermachen (= schreiben). Aber von heute an kann, wer möchte, rückwärts zählen: Das letzte Hundert hat begonnen.    ⋄    Jochen A. Bär

(267) 24. September – Herbst

Seit gestern ist es amtlich: Nach einem Sommer, der diesen Namen kaum verdient hat, ist nun Herbst. Der 23. Sep­tember war in diesem Jahr der kalendarische Herbstbeginn; meteorologisch gesehen haben wir hingegen schon seit dem 1. September Herbst. Und gefühlt, von ein paar Minuten zwischendurch mal abgesehen, seit Anfang April ...

In diesem Jahr bedeutet: Der kalendarische oder auch astronomische Herbstbeginn fällt nicht notwendigerweise in jedem Jahr auf den 23. September. Da die Erde sich nicht in exakt einem Jahr, das heißt in genau 365 Tagen beziehungsweise 8760 Stunden beziehungsweise 525600 Minuten um die Sonne dreht – derselbe Grund, warum es Schaltjahre gibt –, kann das Datum, an dem die Sonne senkrecht über dem Äquator steht und daher an jedem Punkt der Erde Tag und Nacht genau gleich lang sind, kalendarisch gesehen schwanken. Die Tagundnachtgleiche, die den Herbstanfang markiert (auch Sekundäräquinoktium genannt), kann auf den 22. oder den 23. September fallen, ebenso wie das Primäräquinoktium (die Tagundnachtgleiche im Frühjahr) auf den 20. oder 21. März.

Für Schülerinnen und Schüler ist normalerweise der Sommer zu Ende, wenn die großen Ferien um sind. Das Wort Herbst wurde für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen von den Kindern der Grundschule Rechterfeld. Sprach­ge­schichtlich gesehen hat es denselben Ursprung wie das englische Wort harvest (›Ernte(zeit)‹), das lateinische carpere (›pflücken‹), die griechischen Wörter karpizesthai (›ernten‹), karpós (›Frucht, Ertrag‹, eigentlich: ›das Ab­ge­schnittene, Gepflückte‹) und kropion (›Sichel‹), auch das litauisch kirpti (›schneiden‹) und eine Reihe anderer Wörter in verwandten Sprachen. Zugrunde liegt die durch Sprachvergleich erschließbare indoeuropäische Wurzel (s)kerp- beziehungsweise (s)krep- (›pflücken, abschneiden‹), eine Erweiterung der Wurzel (s)ker- (›schneiden‹), von der sich unsere Wörter Schere und scheren ableiten.

Ursprünglich bedeutete das Wort Herbst also ›Erntezeit‹. Diese landwirtschaftliche Bedeutung blieb im Engli­schen harvest und auch to harvest (›ernten‹) erhalten, während sie sich im Deutschen zur allgemeinen Bezeichnung der Jahreszeit verschob. Im südwestdeutschen Sprachraum lebt die ursprüngliche Wortbedeutung als Dialekt- bzw. Fachausdruck für die (Wein-)Lese fort: diese Tätigkeit heißt dort weithin herbsten.

Nicht ganz vergessen sollten wir bei allen diesen herbstlichen Ausführungen, dass unsere Jahreszeiten nur re­la­tive Angelegenheiten sind: Auf der südlichen Erdhalbkugel hat gerade der Frühling angefangen.    ⋄    Jochen A. Bär

(268) 25. September – Aberwitz

Was für ein Aberwitz! Ich sitze in der Bibliothek der Universität, überlege, was ich zum heutigen Wort Aberwitz berichten könnte und merke recht bald, dass meine Recherchen zu diesem Wort genau das nicht sind, was ihr Wortgegenstand bezeichnet: Aberwitz bezeichnet so viel wie ›Unsinnigkeit, Wahnwitz‹, auch ›Unverstand, Verblendung‹. Meine Nachforschungen führen hingegen zu Klarheit über das Wort.

Aberwitz ist aus den Wortbestandteilen aber und Witz zusammengesetzt. In der Linguistik heißt eine solche Fügung Komposition; der zweite Wortteil bestimmt dabei die Grammatik. Eine der wichtigsten grammatischen Bestimmungen, das Genus, hat sich im Laufe der Zeit verändert: Es heißt zwar heutzutage der Aberwitz – zu Luthers Zeiten war es jedoch die aberwitz. „Die ältere sprache setzt das wort weiblich“, erläutert das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm und zitiert den Reformator selbst: „darumb musz der apostel zu den Hebreern […] sehr in die aberwitz gangen sein“.

Aber kann im Sinne von ›verkehrt‹ verstanden werden. Es bedeutet ursprünglich ›noch einmal, zum zweiten Mal‹ (so in abermals oder in Tausende und Abertausende). „Aus dieser Verwendung im Sinne einer Wiederholung konnte die einen Gegensatz bezeichnende Funktion entstehen“, erklärt das Etymologische Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer. Von ›wiederholt‹ über ›nach, wieder, hinter‹ hat sich die Bedeutung zu ›neben-, schlechter‹ und schließlich zur abschätzigen Bedeutung (wie in Aberwitz) entwickelt.

Unter Witz verstehen wir heute oft so viel wie ›kurze Geschichte, die mit einer unerwarteten Wendung, einem überraschenden Effekt, einer Pointe zum Lachen reizt‹. Demnach wäre Aberwitz so viel wie ein ›verkehrter Scherz‹. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Bis ins 19. Jahrhundert war nämlich Witz mehr oder weniger gleichbedeutend mit Vernunft: „Du hast uns sehr schön bewiesen, daß es zum Besten der menschlichen Gesellschaft gereiche, wenn der Vernunft und dem Witze, folglich [...] auch der Unvernunft und dem Aberwitze volle Freiheit gelassen werde“, heißt es beispielsweise bei Christoph Martin Wieland.

Witz ist mit Wissen verwandt und bedeutet ursprünglich ebendies: ›Wissen, Klugheit‹, noch heute erkennbar beispielsweise in Mutterwitz – und eben in Aberwitz. Erst im 17. Jahrhundert kommt es allmählich zu einer Bedeutungsverengung auf ›geistreiche Formulierung‹ und sogar erst im 18. Jahrhundert nimmt das Wort Witz allmählich die heutige Bedeutung (›Scherz‹) an.

Wie man sieht, ist es keineswegs aberwitzig, sich mit Wörtern zu beschäftigen – ganz im Gegenteil: Man lernt immer wieder noch etwas Neues dabei.    ⋄    Vera Willgosch

(269) 26. September – Entschuldigung

Unser heutiges Wort ist ein gutes Wort, finden die Schülerinnen und Schüler der Klasse 1b der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage, die es für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen haben: Denn es „beendet einen Streit“.

Da können wir ihnen nur Recht geben. Um Entschuldigung zu bitten ist eine ganz wichtige und sehr hilfreiche Sache: Wenn man jemanden geärgert, gekränkt oder verletzt hat, kann man sich erst dann wieder mit ihm vertragen, wenn man seinen Fehler einsieht und um Entschuldigung bittet. Oft genug war es ja gar nicht einmal Absicht, sondern einfach nur Gedankenlosigkeit. Und da oft genug nicht einer allein der Schuldige ist, macht es sich meistens gut, wenn auch der andere um Entschuldigung bittet. So gehört sich das unter anständigen Menschen.

Leider sind nicht alle Menschen anständig. Oder, was auch oft vorkommt, sie sind zu stolz für ein „Entschuldige bitte!“. Ganz besonders oft aber sind sie bei der Entschuldigung ebenso gedankenlos, wie sie es vorher waren, so dass die Notwendigkeit, sich zu entschuldigen, überhaupt erst entstanden ist. Sich zu entschuldigen: genau da liegt die Gedankenlosigkeit.

„Du hast Philipp gehauen? Das tut man nicht: Entschuldige dich!“ – „Hiermit entschuldige ich meine Tochter Lena; sie konnte letzte Woche nicht zum Unterricht kommen, da sie schwer erkältet war.“ – „Mein Rücktritt war auch eine Ursache für diese Wahlniederlage und auch für andere. Dafür entschuldige ich mich in aller Form.“ Wer so redet – und so reden ja die meisten –, hat das Wesen der Entschuldigung nicht begriffen. Denn Schuld kann man sich nicht selbst vergeben: das kann nur jemand anders tun. Man stelle sich vor: „Wir haben einen Fehler gemacht, indem wir von dem verbotenen Baum gegessen haben. Dafür entschuldigen wir uns in aller Form.“ Klasse! Erbsünde – in Schmerzen Kinder gebären – im Schweiße des Angesichts sein Brot essen – das alles wäre gar nicht nötig gewesen? Nein, denn man kann sich nun mal nicht selbst entschuldigen. Man kann nur um Entschuldigung bitten. Und man muss damit rechnen, dass einem unter Umständen auch nicht vergeben werden könnte. Oder zumindest nicht gleich.

Das sollten auch schon Kinder wissen: Nicht alles wird mit „Entschuldigung!“ sofort wieder gut. Aber doch vieles. Und deshalb ist es tatsächlich ein gutes, ein sehr wichtiges Wort.

Übrigens: Die Klasse 1b der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage ist inzwischen gar nicht mehr die 1b, sondern – das neue Schuljahr hat ja begonnen – inzwischen die 2b. Wir bitten um Entschuldigung!    ⋄    Jochen A. Bär

(270) 27. September – Kutsche

Das Wort Kutsche bezeichnet einen ›von Pferden gezogenen Wagen, der zur Personenbeförderung eingesetzt wird‹ oder auch in scherzhafter Verwendung ein größeres Auto – die Familienkutsche. Im Deutschen wird es in der ersten Bedeutung seit dem 16. Jahrhundert verwendet. Interessant ist die Herkunft dieser bodenständigen Vokabel (denn eine Kutsche kann man ja auch mal auf Vechtas Straßen antreffen). Das Wort Kutsche ist jedoch ein Lehnwort aus dem Ungarischen – eine der wenigen Sprachen in Europa, die nicht zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört. Das Ungarische ist mit dem Finnischen verwandt und daher eine Art Sprachinsel in einer ansonsten slawischsprachigen Umgebung.

Kutsche stammt von dem ungarischen kocsi, kurz für kocsi szekér – ›Wagen aus Kocs‹, einem Ort in der Nähe von Györ (Raab). Von dort kamen die Kutschenwagen, die unter dem ungarischen König Matthias Corvinus im 15. Jahrhundert Mode wurden. Auch war Kocs eine wichtige Poststation auf einer der ersten Poststrecken zwischen Buda und Wien. Der Vorteil der ungarischen Kutschen lag – laut ungarischen Quellen – darin, dass sie gefedert und daher einfach bequemer waren. So konnten sie sich europaweit durchsetzen. Zu Anfang verstand man unter der Bezeichnung übrigens auch noch einen zweirädrigen Wagen, ähnlich den römischen Streitwägen. Dann verengte sich die Bedeutung jedoch und man bezeichnete als Kutschen nur noch vierrädrige Wagen, die meist auch geschlossen waren. Ähnliches zeigt sich für den aus dem Russischen stammenden Ausdruck Droschke (von russ. drožki).

Anfangs schließen sich die sprachlichen Formen dem Ungarischen noch näher an – es wird also als Fremdwort übernommen und ist in Lautung und Schreibung an die Gebersprache angepasst. So finden sich im 16. Jahrhun­dert die Formen gotschiwagen und gotschiwägen. Das Wort und die Kutsche als Fortbewegungsmittel machten seitdem in ganz Europa Karriere; es finden sich Entlehnungen im Englischen (coach), im Französischen, Spa­ni­schen und Portugiesischen (coche), im Italienischen (cocchio) im Tschechischen (kočár) und Niederländischen (koets).

Wie im Deutschen ist auch in den anderen Sprachen die Lautung, Schreibung und Deklination vollkommen an die jeweilige Zielsprache angepasst, das Wort Kutsche gilt also als Lehnwort, dem man seine ungarische Herkunft nur ansieht, wenn man diese Glosse gelesen hat.    ⋄    Jana-Katharina Mende

(271) 28. September – Kurschatten

Das Wort Kurschatten, für das „Jahr der Wörter“ vorgeschlagen von Frank Punte (Universität Vechta), habe ich zum ersten Mal mit acht Jahren gehört. Meine Mutter regte sich darüber auf, dass meine Grundschullehrerin sie zu einem Gespräch gebeten hatte: Sie hatte, so sagte sie, während ihres Urlaubs meine Mutter mit einem fremden Mann beobachtet, und wollte ihr nun ins Gewissen reden. Dass sie sich getäuscht hatte, wollte die gute Frau, eine Päd­agogin „alter Schule“, erst glauben, als meine Mutter sie mit ihrer Zwillingsschwester bekannt machte und meine Tante bestätigte, dass sie (zusammen mit ihrem Mann, meinem Onkel) zu dem bewussten Zeitpunkt in demselben Kurort Urlaub gemacht hatte, in dem auch meine Lehrerin gewesen war.

In Lutz Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten liest man: „Einen Kurschatten haben, auch: Sich einen Kurschatten zulegen: einen neuen Partner gewinnen, der einem während der kurzen Zeit eines Kuraufenthaltes als ständiger Begleiter ‚wie ein Schatten folgt‘, ein außereheliches Verhältnis während einer Badekur haben, das bei der Heimreise eines Partners meist unproblematisch endet. Eine solche Partnerin auf Zeit wird scherzhaft-ironisch auch als ‚Sternschnuppe‘ bezeichnet, denn sie ist während des Urlaubs ein ‚Stern‘, danach aber ihrem Liebhaber ‚schnup­pe‘.“

Das Wort Kur kommt vom lateinischen cura (›Sorge, Fürsorge, Pflege‹) und wurde im 16. Jahrhundert, zuerst in der Bedeutung ›ärztliche Fürsorge und Betreuung‹ ins Deutsche entlehnt. Heute versteht man darunter ein bestimmtes, unter ärztlicher Aufsicht und Betreuung durchgeführtes Heilverfahren, eine Heilbehandlung. Das Wort Schatten, mittelhochdeutsch schate(we), althochdeutsch scato, ist verwandt mit griechisch skotos (›Dunkel‹).

Heutzutage wäre eine Geschichte wie die mit meiner Grundschullehrerin kaum noch denkbar. Nicht, weil es keine Kurschatten mehr gäbe, sondern weil Lehrerinnen und Lehrer wohl nicht mehr dazu neigen, in dieser Weise für das Privatleben anderer Leute zu sorgen. Sie haben in Zeiten, in denen der Lehrerberuf Kenntnisse in allen möglichen Fremdsprachen und Fähigkeiten vom Sozialpädagogen bis zum Rettungssanitäter erfordert, schlicht mehr als genug damit zu tun, ihre Arbeit anständig zu machen. Wenn sie dann, eher früher als später, zur Kur müssen, sind sie meist so erschöpft, dass sie nicht auch noch Detektiv und Moralapostel spielen, mit anderen Worten: andere Leute beschatten können.    ⋄    Jochen A. Bär

(272) 29. September – Brandung

Das Wort Brandung bezeichnet ›überstürzende, brechende Meereswogen an der Küste‹. Meereswogen brechen, wenn die Meerestiefe geringer ist als die Höhe der Wellen.

Wellen können sich auch dann überstürzen, wenn sie – jenseits von Küsten – auf Untiefen treffen. Der Ausdruck Untiefe ist interessant, weil er zwei sich widersprechende Bedeutungen hat. Zum einen kann Untiefe den ›Bereich eines Gewässers von sehr geringer Wassertiefe‹ meinen. Das Präfix un- ist dann verneinend. Zum anderen kann das Wort Untiefe den ›Bereich eines Gewässers von enormer Wassertiefe‹ bezeichnen. Das Präfix un- ist dann, ähnlich wie bei den Ausdrücken Unmenge oder Unsumme, steigernd. Ausdrücke, die zwei sich wi­der­sprechende Bedeutungen haben, nennt man in der Sprachwissenschaft antisem – im Gegensatz zu Antonymen, bei denen verschiedene Ausdrücke mit gegensätzlichen Bedeutungen vorliegen. Antisem ist also ein und dasselbe Wort, Antonyme treten immer paarweise auf.

Zu Brandung gibt es kein Antonym, ebensowenig wie zu vielen anderen Wörtern der deutschen Sprache. Die heutige Form mit der Endung -ung ist laut Duden-Etymologie zum ersten Mal im 18. Jahrhundert bezeugt. Sie ist gebildet zu dem älteren Wort Branding, welches wiederum aus dem niederländischen Wort branding entlehnt ist. Das Substantiv branding ist eine Ableitung von dem niederländischen Verb branden. Es bedeutet im Niederländischen ›brennen‹ oder ›lodern‹; verwandt ist das deutsche Wort Brand.

Brandung, wie wir den Ausdruck heute verstehen, hat demnach Teile seiner Bedeutung dadurch erhalten, dass der Vorgang des Brechens von Wellen metaphorisch verglichen wird mit der tänzelnden Bewegung von Flammen oder einer kochenden Masse. So beschreibt Schiller in seiner Ballade Der Taucher von 1797, in der ein Knabe der Ritterprüfung ausgesetzt ist, sich ins Meer zu stürzen, um einen vom König hineingeworfenen goldenen Becher wiederzuholen, folgendermaßen den Moment, in dem der junge Mann auf die brandenden Wogen blickt, bevor er den Kampf mit der Natur auf sich nimmt: „Und es wallet und siedet und brauset und zischt, | Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt, | Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt, | Und Flut auf Flut sich ohn Ende drängt, | Und will sich nimmer erschöpfen und leeren, | Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.“    ⋄    David Römer

(273) 30. September – Archipel

Unser heutiges Wort ist eines, das innere Bilder von Seefahrt, Entdeckungsreisen, Abenteuerlust erzeugt. Ein Ar­chipel, das ist eine Inselgruppe und das sie umgebende und zwischen ihr liegende Meer. Das Wort ist über das Italienische in die deutsche Sprache gekommen. Es geht wohl zurück auf das griechische Aigaion pelagos (›Ägäi­sches Meer‹) und wurde im italienischen archipelago an das griechische archi- (›Haupt-‹, ›Erz-‹, ›Ur-‹, ›das Erste‹) angeschlossen. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert gab es in der Ägäis ein italienisches Herzogtum mit dem Namen Archipelagos.

Noch im Ur-Brockhaus von 1809 liest man: „Der Archipel, (Archipelagus) ein Meer, welches viele Inseln hat. Vor­zugs­weise führt diesen Namen das Aegeische Meer“. Dass im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert tatsächlich die Ägäis „der“ Archipelagus war, lässt das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung erkennen, das zwar das Wort Archipel als solches nicht verzeichnet, aber zu dem Wort Melone schreibt: „Man behauptet, daß dieses Gewächs den Nahmen von der Insel Melos im Archipelago habe“.

Jene, die für diese Dinge ein Empfinden haben, erinnert das Wort Archipel leider auch an imperiales Groß­manns­tum und kolonialistische Unterdrückung fremder Kulturen. So war beispielsweise der Bismarck-Archipel (heute Teil von Papua-Neuguinea) von 1885 bis 1919 Teil des deutschen Kolonialreichs, das in dem Bestreben zusam­men­ge­rafft wurde, neben andere Großmächte des späten 19. Jahrhunderts zu treten. „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“, formulierte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow 1897 im Reichstag.

Die kulturchauvinistische eurozentrische Sicht auf Außereuropäisches, die – kaum würde man es glauben – schon die Epoche der ach so humanistischen Aufklärung prägte und, sobald man dazu in der Lage war, zu Un­ter­drückung, Ausbeutung, selbst Völkermord führte (unter anderem 1904 beim Aufstand der Herero und Nama), wird beispielsweise bei dem großen Forschungsreisenden Johann Georg Forster erkennbar, der 1786 über „kleinere, hagere, schwarze Menschen mit krausem Wollhaar und häßlicheren Gesichtszügen“ schrieb, die sich „in einigen nahe am moluckischen Archipel liegenden Inseln verbreitet“ haben. Der Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts hat seine Wurzeln bereits im 18. Jahrhundert, darauf muss man in diesem Zusammenhang hinweisen. Die heutige Kolumne ist daher meiner Vechtaer Kollegin Prof. Dr. Gabriele Dürbeck gewidmet, zu deren Arbeitsgebieten die (Post)kolonialismusforschung gehört.    ⋄    Jochen A. Bär