Germanistische Sprachwissenschaft
Wissenschaftstransfer – Öffentlichkeitsaktivitäten
Das Jahr der Wörter
(305) 1. November – Enkelkind
Das Wort Heimat haben wir in dieser Reihe schon behandelt. Hätten wir damals schon gewusst, dass einige Zeit später die wunderbare Kolumne „Heimat.Los“ in der OV unsere Nachbarin werden würde, hätten wir Heimat noch zurückgestellt und dann zur Begrüßung gebracht. Denn gute Nachbarschaft hat ja schließlich auch etwas mit Heimat zu tun. Das Wort Nachbar, mittelhochdeutsch nachgebur(e), bedeutete ursprünglich ›der Bauer nebenan‹, also der nahebei Wohnende – wobei „nahebei“ im Mittelalter oft ein paar Kilometer entfernt bedeuten konnte. Da hielt sich leicht gute Nachbarschaft ...
Dass Heimat noch für vieles mehr stehen kann, machen die anrührenden Beiträge in der OV sehr gut deutlich. Ganz wichtig: Familie. Und damit sind wir dann auch bei unserem heutigen Wort: Enkelkind. Vorgeschlagen wurde es von Mechthild Imwalle aus Damme, und zwar gleich im Plural. Ob sie dabei eigene Enkelkinder vor Augen hatte, hat sie uns nicht verraten, aber falls ja, dann erübrigt sich zweifellos jede weitere Erklärung, warum dieses Wort für sie ein Kandidat für das „Jahr der Wörter“ gewesen ist.
Mangels eigener Erfahrung wollen wir hier aber nicht weiter über die Qualitäten von Enkelkindern nachsinnen, sondern uns dem Sprachlichen zuwenden. Das Wort Enkelkind besteht aus zwei Bestandteilen. Der zweite geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel gen- (›erzeugen, hervorbringen‹), die eine weitverzweigte Wortsippe hervorgebracht hat. Dazu gehören unter anderem lateinisch gens (›Sippe, Geschlecht‹) und genus (›Geschlecht, Art‹), natus (altlateinisch gnatus ›geboren‹), natio (›Geburt, Abstammung, Stamm‹), natura (›Geburt, angeborene Beschaffenheit, Wesensart‹), aber auch das deutsche Wort König (eigentlich ›Mann aus vornehmer Sippe, von edler Abstammung‹). Das Kind ist also ursprünglich das ›Gezeugte, Geborene‹.
Enkel hieß im Frühneuhochdeutschen enikel, im Althochdeutschen enichlin und ist ein Diminutiv (eine „Verkleinerungsform“) zu dem Wort Ahn. Man glaubte früher, dass der Enkel der wiedergeborene Vorfahre oder ihm zumindest sehr ähnlich sei; bei den Germanen trug daher der Enkel oftmals den Namen des verstorbenen Großvaters. Das Althochdeutsche kannte übrigens noch einen anderen Ausdruck für ›Enkel‹: nefo. Dieses Wort hat seine Bedeutung im Laufe der Zeit verändert, weil man anscheinend der Meinung war, dass es keine zwei verschiedenen Wörter für dieselbe Sache brauche; wir kennen es heute als Neffe. ⋄ Jochen A. Bär
(306) 2. November – Pergament
Die Antike schrieb auf Papyrus, das heißt auf die plattgeklopften und zu einer Art Matte geflochtenen Halme der Papyrusstaude: Papyrus ist, obwohl das Material ein ganz anderes ist, der Ursprung unseres Wortes Papier. Doch ehe das Papier, ein kostengünstiger Beschreibstoff, den die alten Chinesen seit vielen Jahrhunderten kannten, in Europa eingeführt wurde, musste erst das späte Mittelalter anbrechen: In Deutschland gab es die erste Papiermühle drei Jahre nach der Gründung der Universität Heidelberg (der ältesten Universität Deutschlands) und nicht einmal hundert Jahre vor der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern: Sie wurde 1389 in Nürnberg eingerichtet.
Da Papyrus eine Pflanze ist, die in unseren Breiten nicht gedeiht, musste man im frühen und hohen Mittelalter zu anderen Beschreibstoffen greifen. Ein vergleichsweise leicht zu beschaffendes Material waren enthaarte Tierhäute. Die Idee stammt angeblich aus der in Kleinasien gelegenen griechischen Stadt Pergamon (heute Bergama, nördlich von Izmir in der Türkei). Der lateinische Name von Pergamon war Pergamum, und die Erfindung nannte man daher charta pergamena (›Papier aus Pergamon‹). Pergamen (ohne t am Ende) ist eine ältere Form des Wortes Pergament. Bei der Herstellung legt man das Schaf-, Ziegen- oder Kalbfell ungegerbt in eine Kalklösung, bevor Haare, Oberhaut und anhaftende Fleischreste abgeschabt werden. Anschließend wird die Haut gereinigt, gespannt und getrocknet. Die Oberfläche wird zudem mit Bimsstein geglättet.
Hält man sich dieses aufwendige Verfahren vor Augen und bedenkt man, dass je ein Tier sein Leben lassen musste, um eine einzige Folio-Doppelseite zu gewinnen (Folio ist ein historisches Buchformat des Mittelalters, es entspricht heute in etwa DIN-A 3), so kann man sich ungefähr vorstellen, wie teuer Pergament war. Bücher waren Statussymbole; aufwendig gestaltete Handschriften wie der Codex Manesse, die Hauptquelle für den deutschen Minnesang, waren ungefähr so viel wert und bedeuteten ihrem Besitzer so viel wie heute ein Ferrari oder Rolls Royce vor der Tür.
Man konnte Pergament nicht nur zum Beschreiben verwenden, sondern auch zum Einbinden von Büchern. Oft nahm man dafür ein bereits gebrauchtes Pergament: Wenn man die beschriebene Seite mit dem Holz des Buchdeckels verleimte, sah man das von außen gar nicht und es störte nicht weiter. Bis heute findet man daher beim Restaurieren alter Bücher, immer wieder mittelalterliche Handschriften. In manchen Fällen, wie bei den 1988 bekannt gewordenen Budapester Fragmenten, einer kleinen Sammlung von Minnelieder-Bruchstücken, kommen einzigartige Textzeugnisse zutage. ⋄ Jochen A. Bär
(307) 3. November – meschugge
Die ehemalige Klasse 4c der Kardinal-von-Galen-Schule in Dinklage hat sich am Preisausschreiben zum „Jahr der Wörter“ mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen beteiligt. Die Kinder haben, wie ihre Lehrerin Frau Stengert schreibt, „eine Menge lustiger Wörter gefunden, die wir zu Hause und im Unterricht, mit Hilfe des Wörterbuchs oder aus spontaner Eingebung, höchst vergnügt ‚entdeckt‘ haben. Die Wörter wurden im Klassenverband besprochen, ihre Bedeutung erklärt, denn nicht immer war diese jedem Schüler/jeder Schülerin bekannt.“
Eines der vorgeschlagenen Wörter ist meschugge. Dabei handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Jiddischen (meschuggo), das im 19. Jahrhundert übernommen wurde und letztlich auf das hebräische meschugga zurückgeht. Es bedeutet, dem großen Duden zufolge, so viel wie ›verrückt, nicht bei Verstand‹ und wird dem saloppen Sprachgebrauch zugerechnet. Damit könnte als Synonym (gleichbedeutendes Wort, Ausdruck mit gleichem Gebrauchswert) wohl am ehesten so etwas wie bekloppt oder plemplem gelten. Aufgrund seiner Herkunft erscheint meschugge aber häufig in spezifisch jüdischem Zusammenhang. So soll David Ben Gurion, der erste israelische Staatspräsident, auf die Frage, wer für ihn ein Jude sei, geantwortet haben: „Für mich gilt jeder als Jude, der meschugge genug ist, sich selbst Jude zu nennen.“ Am bekanntesten wurde das Wort wohl durch den Titel des Films Meschugge von Daniel Levy.
Grammatisch interessant ist, dass es zwei Möglichkeiten gibt, meschugge attributiv, das heißt zur näheren Bestimmung eines Substantivs zu verwenden: ein meschugger Kerl, eine meschugge Situation, ein meschugges Ding – oder aber ein meschuggener Kerl, eine meschuggene Situation, ein meschuggenes Ding. Für die im großen Duden ebenfalls angegebene endungslose Verwendung (ein meschugge Kerl) fehlen mir Belege; ich kann also nicht bestätigen, dass es so etwas in der Sprachrealität tatsächlich gibt.
Gesteigert werden kann meschugge, da es sich dabei um ein Adjektiv handelt, ebenfalls. So nennt der Hamburger Anglistik-Professor Dietrich Schwanitz (1940–2004) in seinem 1999 erschienenen Buch „Bildung. Alles was man wissen muß“ den SS-Führer Heinrich Himmler den „zweifellos meschuggesten Nazi der gesamten mörderischen Bande“. Die Parallelform „meschuggenst“ habe ich in den digitalen Archiven des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache wiederum vergebens gesucht. ⋄ Jochen A. Bär
(308) 4. November – Silo
Unser heutiges Wort wurde von Christine Gröneweg (Universität Vechta) vorgeschlagen. Bei der Auswahlsitzung, bei der entschieden wurde, welche von den über sechshundert eingesendeten Wörtern in der OV erläutert werden sollten, fand OV-Geschäftsführer Christoph Grote, Mitglied der Jury: „Sollten wir aufnehmen. Hat ’n Regionalbezug. Die Dinger stehen hier überall rum.“
Stimmt: Im Oldenburger Münsterland – wie in den meisten anderen landwirtschaftlich, aber auch industriell geprägten Gegenden – sieht man sie allenthalben. Der, neuerdings auch das Silo ist ein großer Speicher für Schüttgüter. Silos werden zur Aufbewahrung von Futtermitteln und Ähnlichem verwendet, aber auch von Zement, Kalksteinmehl, Kunststoffgranulat und anderen Industriegütern. Sie werden normalerweise von oben befüllt; die Entnahme erfolgt von unten.
In der Landwirtschaft sind Hochsilos verbreitet, etwa 10 bis 20 Meter hohe zylindrische Bauwerke aus Beton, Stein, Stahl, Holz oder Kunststoff, in denen Getreide oder Silage (Gärfutter) aufbewahrt wird. Es existieren aber auch Silos, die wie Hochhäuser aussehen, beispielsweise der (2013 abgerissene) Henninger-Turm in Frankfurt oder der über 100 Meter hohe Getreidesilo der Schapfenmühle bei Ulm. Bauwerke dieser Art werden Siloturm genannt.
Das Wort Silo wurde im 19. Jahrhundert aus dem Spanischen entlehnt. Es wird auf das lateinische sirus zurückgeführt, das seinerseits auf griechisch siros oder seiros (›Getreidegrube, unterirdischer Getreidespeicher‹, auch ›Fallgrube‹ und ›Gefängnis‹) zurückgeht. Da die Veränderung von r zu l selten ist, wird die griechisch-lateinische Herkunft jedoch auch angezweifelt und stattdessen ein keltischer Ursprung in Betracht gezogen: Vermutet wird dabei ein durch Sprachvergleich erschlossenes keltisches Wort silon (›Samen, Samenkorn‹).
Der Plural von Silo lautet Silos. Früher gab es aber auch die Pluralform die Silo, ohne -s am Ende. Im Kleinen Konversations-Lexikon des Brockhaus-Verlags von 1911 findet man unter dem Stichwort Ensilage die Erläuterung: „Aufbewahrung besonders grüner Futtermittel, auch Kartoffeln, Rüben etc. in Silo [...], wobei sie einen Gärungsprozeß durchmachen“.
Nicht zu vergessen: Mit dem Wort Silo als Zweitglied werden heute umgangssprachlich gern zusammengesetzte Wörter (Komposita) zur Bezeichnung von Gebäuden gebildet, die zur Unterbringung einer großen Zahl von Menschen oder Dingen dienen. Silos dieser Art, z. B. Beamten-, Bücher- oder Wohnsilos, werden als triste, nüchtern-unpersönlich wirkende Bauten empfunden. ⋄ Jochen A. Bär
(309) 5. November – hanebüchen
Irgendwie scheinen Vizepräsidenten der Universität Vechta mit dem Unsinn konfrontiert zu sein. Den Beitrag zu absurd hatte ich dem amtierenden Vizepräsidenten, meinem Kollegen Prof. Dr. Norbert Lennartz gewidmet, weil er über das Absurde in der englischen Literatur geforscht hat. Der heutige Beitrag ist für meinen Vechtaer Kollegen Prof. Dr. Martin Winter, bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2014 viele Jahre lang Vizepräsident unserer Universität. Er hat hanebüchen vorgeschlagen. Das Wort bedeutet ›grob, unerhört, aberwitzig, absurd, empörend‹. Es ist eine Ableitung von mittelhochdeutsch hagenbuoche, frühneuhochdeutsch Hage(n)buche, das auch in den Nebenformen Hainbuche und Hanbuche vorkommt. Darin steckt das Wort Hain (›kleiner Wald‹) bzw. Hag (›kleiner Wald; Hecke‹). Die Hainbuche oder Weißbuche (mit wissenschaftlichem Namen Carpinus betulus) wurde von alters her gern in Hecken angepflanzt. Sie ähnelt der Buche, ist aber nicht mit ihr, sondern mit den Birken näher verwandt.
Die heute allein noch bekannte übertragene Bedeutung, die an das Harte, Knorrige, Derbe des Hainbuchenholzes erinnert, kam erst im 18. Jahrhundert auf. Zunächst stand neben hanebüchen noch die Variante hainbüchen („ein haynbüchener Kerl“). In jüngerer Zeit wird hanebüchen besonders auf unverständliche Aussagen oder Handlungsweisen bezogen (das ist hanebüchen oder auch hanebüchener Unsinn).
Mit derartigem Unsinn war Martin Winter erst unlängst wieder in der OV konfrontiert. Und zwar in meiner Kolumne Drachen. Dort war die geometrische Figur des Drachenvierecks erläutert worden. Der Sprachwissenschaftler hat aber keine Ahnung von Mathematik, so dass der Mathematiker korrigieren musste: „Das Drachenviereck ist (fast) nie ein Parallelogramm – nur in einem Spezialfall, dem Rhombus (der Raute), in der alle vier Seiten gleich lang und paarweise parallel sind. Und nur in diesem Spezialfall halbieren die Diagonalen eines Drachenvierecks einander. Diese spezielle Form ist allerdings für den Herbstdrachen unüblich. Kennzeichnend (definierend) für das Drachenviereck sind die zwei Paare gleichlanger, nebeneinander liegender Seiten. Die Diagonalen stehen senkrecht aufeinander.
Die charakteristische ‚Händehaltung‘ von Angela Merkel wird oft als ‚Raute‘ bezeichnet. Ist falsch, das könnte Angie gar nicht schaffen, es sei denn, ihre Daumen wären genau so lang wie die zusammengelegten Finger. Ausgehend von der Annahme, dass die Längen ihrer Daumen und die Längen der einander entsprechenden Finger an der linken und rechten Hand gleich sind, handelt es sich bei ihr auf jeden Fall um ein Drachenviereck!“ ⋄ Jochen A. Bär
(310) 6. November – Labsal
Leider haben wir in der gestrigen Kolumne zu erwähnen vergessen, dass das Wort hanebüchen nicht nur von Prof. Dr. Martin Winter vorgeschlagen worden war, sondern auch von Heinz Plagemann aus Vechta. Wir holen das hiermit nach und widmen zum Ausgleich Herrn Plagemann die heutige Kolumne. Besser gesagt: seinem Vorschlag Labsal. Dabei handelt es sich um einen von mehreren Vorschlägen, die er eingesandt hat, mit der Erläuterung: „Diese Wörter konnten unsere Enkelkinder nicht erklären.“
Kein Wunder: Labsal ist ein Wort, das aus der heutigen Alltagssprache so gut wie verschwunden ist. So sehr sogar, dass viele Zeitgenossen gar nicht auf Anhieb sagen können, wie es überhaupt richtig heißt: die Labsal (so wie die Drangsal, die Mühsal, die Trübsal) oder das Labsal (so wie das Rinnsal, das Schicksal, das Scheusal). Antwort: In der Regel heißt es das Labsal; vor allem in Süddeutschland und in Österreich sagt man aber auch die Labsal.
Selten gebrauchte, altertümlich klingende Wörter gelten oft als stilistisch gehoben. Auch Labsal gehört dazu. Das Wort bedeutet ›etwas, das jemanden erfrischt‹ („das kühle Quellwasser war ein Labsal für die Wanderer“). Der zweite Wortbestandteil -sal war (anders als beispielsweise eine Endung wie -heit oder -tum) ursprünglich wohl kein selbständiges Wort, sondern wurde immer schon als Ableitungswortelement verwendet. Man konnte solche Ableitungen von Verben bilden wie bei Rinnsal oder auch bei Labsal, von Substantiven wie bei Drangal, und auch von Adjektiven wie bei Trübsal. In abgeschwächter Form steckt -sal beispielsweise in Wechsel, Füllsel, Anhängsel, Überbleibsel.
Der erste Bestandteil von Labsal ist der Stamm des Verbs laben. Es gehört ebenfalls der gehobenen Stilebene an und bedeutet ›jemanden (mit Speise oder Trank) erquicken, erfrischen‹ oder auch – zusammen mit sich – ›sich an etwas gütlich tun‹. Das bereits im Althochdeutschen (als labon) bekannte Wort ist wohl eine frühe Entlehnung aus lateinisch lavare (›waschen, baden; benetzen‹). Die Bedeutung ›mit Wasser oder Ähnlichem benetzen‹ wurde dann allmählich zu ›erfrischen, erquicken‹.
Von lateinisch lavare abgeleitet sind auch Lavendel (das Kraut heißt nach seiner Verwendung als duftende Bade-Essenz) und Latrine (ursprünglich lavatrina: ›Wasch-, Baderaum‹). Die Wortsippe geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel lou- (›mit Wasser reinigen‹), die auch dem griechischen lousthai (›baden, waschen‹) und dem deutschen Lauge (ursprünglich ›Wasch-, Badewasser‹) zugrunde liegt. ⋄ Jochen A. Bär
(311) 7. November – Hagestolz
Das Wort Hag (›Hecke, kleiner Wald‹) hatten wir im „Jahr der Wörter“ bereits mehrfach kennengelernt: Es liegt dem Wort Hexe zugrunde, und es steckt auch, wie erst kürzlich erläutert, in hanebüchen. Die ganz unterschiedlichen Schreibungen dürfen uns nicht verwirren: Die Hexe ist eigentlich die Hägse (der Dämon, der am Hag, an der Umzäunung des Dorfes lauert), und hanebüchen kommt von Hainbuche. Beim ersten Bestandteil dieses Wortes, Hain (›kleiner Wald‹), handelt es sich um eine Variante von Hag. Das zugrunde liegende lautliche Phänomen heißt Synärese (Zusammenziehung zweier verschiedenen Silben angehörender Vokale zu einer Silbe). Die Lautfolge -ege- wird dabei zu -ei-, die Lautfolge -age- zu -ai-; mittelhochdeutsch getregede (›Geträge, Ertrag des Feldes‹) wird also zu Getreide, mittelhochdeutsch hagen, eine Form von hag, wird zu hain. Die Wortsippe geht zurück auf die indoeuropäische Wurzel kagh- (›Flechtwerk, Zaun‹, auch ›flechten, mit einem Zaun umgeben‹) zurück, die auch in Kai, französisch quay (›Uferbefestigung‹) sowie in Heck (›Schiffshinterteil‹, ursprünglich: der mit einem Schutzgitter umgebene Platz des Steuermanns). Unmittelbar von Hag abgeleitet sind auch Gehege (›Einfriedung, Umzäunung‹), hegen (›umzäunen, schützen, pflegen‹) und Hege (›Gesamtheit aller Maßnahmen zum Schutz und zur Pflege des Wildes‹).
Und natürlich – denn sonst müssten wir das alles ja gar nicht erzählen – steckt Hag auch in unserem heutigen Wort: dem Hagestolz. Diese altertümliche Bezeichnung für einen eingefleischten, meist schon älteren, etwas kauzigen Junggesellen – Goethe, in einem Brief aus dem Jahre 1779: „ Wir fanden bei Beroldingen [...] alles durcheinander gekramt, eben eine Hagestolzen Wirthschafft.“ – galt früher für Personen beiderlei Geschlechts („ein hagestoltz knecht oder jungfrowe“). Hag bedeutete in diesem Zusammenhang so viel wie ›(eingefriedetes) kleines Nebengut‹; der zweite Bestandteil hat nichts mit stolz zu tun, sondern kommt von einem germanischen Wort, das im gotischen staldan (›besitzen‹) erscheint. Das althochdeutsche hagastalt bedeutete also ›Hagbesitzer‹.
Der Hag war im Gegensatz zum Herrenhof ein kleines Stück Land, das dem jüngeren Sohn im alten deutschen Erbrecht zufiel. Es war normalerweise zu klein, um darauf einen Hausstand zu gründen, und daher mußte der Hagbesitzer oft unverheiratet bleiben. ⋄ Jochen A. Bär
(312) 8. November – Hundsfott
Wie schrieb der geniale Übersetzer und Kolumnist Harry Rowohlt in der Zeit: „Skrotum ist ein Wort, das ich normalerweise nie benutze.“
Verständlich. Ich auch nicht. Und auch unser heutiges Wort verwende ich selten. Hundsfott! „Niederträchtiger, gemeiner, nichtswürdiger Kerl; Schurke, Schuft“, erläutert der große Duden die Wortbedeutung und ergänzt: „derb abwertend“. Letzteres deshalb, weil der zweite Wortbestandteil ursprünglich ein vulgäres Wort für das weibliche Geschlechtsteil war. Hundsfott ist also eigentlich eine Bezeichnung für das Geschlechtsteil der Hündin; die übertragene Verwendung thematisiert das als schamlos empfundene Verhalten der läufigen Hündin.
Unvergessen der Wutausbruch des Philosophieprofessors Köbele in Dietrich Schwanitzens Roman Der Campus (1995): „‚Sie wissen überhaupt nicht, was Worte bedeuten. Sie richten unter den Worten ein Massaker an. Sie haben aus der Universität ein Massengrab der Worte gemacht. [...] Ich habe gesehen, wie meine Seminare zu Versammlungen kaugummikauender, zotteliger, stammelnder Höhlenbewohner wurden. Ich habe in Ausschüssen gesessen, wo ich mich von analphabetischen Rüpeln anpöbeln lassen musste, gegen die King Kong ein verfeinerter Höfling war. Ich habe mich dazu hergegeben, so zu tun, als ob das sinnlose Gefasel einer Horde unartikulierter Paviane eine philosophische Diskussion wäre. Ich habe mich schwer an dieser Universität versündigt, indem ich das alles mitgemacht habe, ohne meine Kleider zu zerreißen und offen zu verkünden, daß Neandertaler wie Sie nicht auf die Universität gehören. [...] Das‘, brüllte Köbele und hieb mit seiner blanken Faust auf eine Nuß, dass sie in Trümmern zerbarst, ‚das sollte ich mit Hundsföttern wie Ihnen machen.‘
Hundsföttern! Den Plural von ‚Hundsfott‘ hatte Bernie noch nie gehört. Welch ein Wort! Das mußte seit 1830 außer Gebrauch sein.“
So ähnlich. Man hört das Wort – obgleich es in der Tat passende Gelegenheiten genug gäbe – heute kaum noch. Denn unter anderem kann man sich damit strafbar machen. Würde es den Tatbestand der Beleidigung erfüllen, wenn man beispielsweise den GDL-Chef Claus Weselsky als Hundsfott bezeichnen würde? Zweifellos; weshalb wir dies hier ausdrücklich nicht tun. Der Mann nimmt, nur weil er partout mit dem Kopf durch die Wand will, ein ganzes Land in Geiselhaft, diskreditiert seinen eigenen Berufsstand (Lokführer ist in jüngster Zeit, ebenso wie Fluglotse und Pilot, auf dem besten Weg zum Schimpfwort) – aber das ist nur sein gutes Recht. Wir lassen also unser heutiges Wort stecken und zitieren mit Blick auf den Bahnstreik lieber nochmals Harry Rowohlt: „Da zieht sich einem ja das Skrotum zusammen!“ ⋄ Jochen A. Bär
(313) 9. November – Mauer
Mauer ist ein uraltes Lehnwort, das bereits zu germanischer Zeit aus dem Lateinischen – murus (›Mauer, Wall‹) – übernommen wurde. Nach dem Vorbild des Lateinischen war es zunächst ein Maskulinum (der Mauer), änderte dann aber sein Genus nach dem Vorbild von Wand und wurde zum Femininum (die Mauer), als das wir es heute noch kennen. Die Germanen wohnten in Flechtbauwerken (Wand kommt von winden und bedeutete ursprünglich ›Gewundenes, Geflecht‹) oder in Holzhäusern; die Steinbauweise lernten sie erst durch den Kontakt mit den Römern kennen. Zahlreiche Wörter kamen in diesem Zusammenhang aus dem Lateinischen ins Germanische und das spätere Deutsche: Kalk (von lat. calx), tünchen (von lat. tunica ›Gewand, Umkleidung‹), Ziegel (von lat. tegula), Pforte (von lat. porta), Fenster (von lat. fenestra) und eben auch Mauer.
Am 13. August 1961 begann das Unrechtsregime der DDR, dem schon damals in Scharen die Menschen davonliefen, in einer minutiös vorbereiteten Aktion mit dem Bau der Berliner Mauer, die Walter „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ Ulbricht zwei Monate zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hatte. Errichtet wurde ein Bauwerk, das einzig und allein den Zweck hatte, Menschen einzusperren. Wer es überwinden wollte, musste damit rechnen, noch schlimmer eingesperrt oder schlimmstenfalls sogar erschossen zu werden.
Wohlgemerkt: Ohne ein erschreckendes Ausmaß von Beton in den Köpfen wäre es zu einem derart erschreckenden Ausmaß von Beton (und Stacheldraht und Elektrozäunen und Sprengfallen und Schusswaffengebrauch) in Berlin und an der gesamten deutsch-deutschen Grenze nicht gekommen. Der Beton und die anderen Erscheinungsformen der Unmenschlichkeit in ihrer Erscheinungsform „Berliner Mauer“ und „deutsch-deutsche Grenze“ sind seit nunmehr einem Vierteljahrhundert wieder verschwunden. In vielen Köpfen gibt es heute immer noch Beton – in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen und selbstverständlich nicht nur hierzulande. Gleich ob links oder rechts, gleich ob „reaktionär“ oder „innovativ“, gleich ob bürokratisch oder faustrechthaberisch: Aus ideologischer Verbohrtheit anderen Menschen vorschreiben zu wollen, wie sie gefälligst zu sein und was sie zu tun und zu lassen haben, ist immer von Übel.
Das heißt selbstverständlich und gerade nicht, dass jeder tun können solle, was ihm beliebt. Die Freiheit des einen hört dort auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Und das setzt Offenheit voraus, Toleranz, Gesprächsbereitschaft. Mit einem Wort: Menschlichkeit. Das Wissen um eigene Fehler und Schwächen, das, recht verstanden, ein bisschen leiser macht. Vergessen wir das nicht ganz, heute am 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. ⋄ Jochen A. Bär
(314) 10. November – dekadent
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an den Spruch aus der Werbekampagne für den Kleinstwagen Fiat Panda („die tolle Kiste“), der gut in diese Tage der Erinnerung an die friedliche Revolution (im DDR-Jargon auch „Wende“ genannt) vor fünfundzwanzig Jahren passt: „Bürger des damals noch real existierenden DDR-Sozialismus begutachten einen Panda: ,Also mal ehrlich, Erich ... äh Egon ..., den real existierenden Spätkapitalismus hätten wir uns deutlich dekadenter vorgestellt.‘“
Womit hier gespielt wird, ist die von marxistischer Seite gern vorgenommene Zuschreibung des Attributs dekadent, die dem Kapitalismus, speziell in seiner damals so gesehenen oder erhofften Phase des „Spät-Kapitalismus“, galt. Solch ein dekadentes, morbides, degeneriertes, abgelebtes, heruntergekommenes, im Verfall begriffenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem stehe kurz vor seinem Verschwinden und werde ersetzt durch Sozialismus und Kommunismus. Erst einmal kam es bekanntlich genau andersherum.
Das Adjektiv dekadent, für das wir gerade eine ganze Reihe gleichbedeutender oder annähernd gleichbedeutender Wörter (Synonyme) aus einem Synonymwörterbuch angeführt haben, stammt aus dem Französischen und wurde nach Pfeifers Etymologischem Wörterbuch um 1900 ins Deutsche übernommen. Das französische décadent gehört zum Substantiv („Nomen/Namen-, Dingwort“) décadence, das im 15. Jahrhundert gebildet wurde. Dies geschah im Rückgriff auf das Mittellateinische, also nicht auf das klassische Latein. Im klassischen Latein, wie es in den Jahrhunderten um Christi Geburt gesprochen und geschrieben wurde, gab es das entsprechende Wort noch gar nicht (jedenfalls wurde es schriftlich nicht überliefert), wohl aber gab es das entsprechende Bildungsmuster, bestehend aus dem Präfix (der „Vorsilbe“) de-, die u. a. so viel wie ›hinab‹ bedeutete und vor Verben („Tätigkeitswörter“) gestellt wurde, hier vor das Verb cadere (Betonung auf der ersten Silbe) mit der Bedeutung ›fallen‹, sodass sich decadere ›hinabfallen‹ ergab. Zur Formenvielfalt der Verben gehört das Partizip Präsens (das „Mittelwort der Gegenwart“) de-cad-ens / de-cad-ent- – im Deutschen ganz parallel: hinab-fall-end. Zu diesem Partizip kann das Substantiv decadentia gebildet, im Französischen wiederzugeben als décadence. Das war zunächst ganz wörtlich zu verstehen, etwa als ›Einsturz‹ (eines Gebäudes), bekam dann aber, wie dem Petit Robert zu entnehmen ist, bald den abstrakten Sinn von ›wirtschaftlicher Niedergang‹. Im 19. und 20. Jahrhundert stand das Wort „bes. für Richtungen in der bildenden Kunst und Literatur, die gesellschaftlichen Verfall bzw. das verfeinerte, morbide Spätstadium einer Gesellschaft zum Ausdruck bringen (daher bis in die Gegenwart oft in frz. Aussprache und Schreibweise)“ (Pfeifer). In der deutschen Literatur zählt man um 1900 dazu Autoren wie Rilke, Schnitzler, von Hofmannsthal, auch Thomas Mann.
In der Sprache des Nationalsozialismus bürgerte sich parallel und synonym zu dekadent der Begriff entartet „zur Bezeichnung und Abwertung von der nationalsozialistischen Ideologie und Ästhetik widersprechenden gesellschaftlichen und weltanschaulichen Vorstellungen sowie künstlerischen Werken“ ein (wie es in der Wikipedia heißt). Und weiter: „Als Ursache für eine ,Dekadenz/Entartung‘ meinte man häufig, eine vorgebliche rassische Fremdheit und damit Minderwertigkeit der Vertreter bzw. Schöpfer dieser Vorstellungen und Kunstwerke konstatieren zu müssen.“ Dieses Denken manifestierte sich in den Bücherverbrennungen des Jahres 1933, 1938 in der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November, demselben Tag also, an dem wir uns gestern an den Mauerfall (1989) erinnert haben. Es kulminierte schließlich in der Schoah, der Verfolgung und Ermordung der Juden, Verbrechen, denen auch andere Bevölkerungsgruppen zum Opfer fielen.
Der Vorschlag zur Behandlung des Wortes dekadent stammt von Oliver Middelbeck, der auch schon den Kommers (Nr. 191 am 10. Juli) eingebracht hatte. ⋄ Wilfried Kürschner
(315) 11. November – Schnulze
Unser heutiges Wort stellen wir auf Vorschlag von Dr. Sigrid Heising vor. Es ist, anders als viele Wörter, die wir in dieser Reihe schon behandelt haben, ein vergleichsweise junges Wort, das nach Auskunft mehrerer Wörterbücher erst nach dem zweiten Weltkrieg aufgekommen ist. Heinz Küppers Wörterbuch der deutschen Umgangssprache erwähnt mit gewohnter Vagheit frühere Hörbelege, die aber allesamt nicht vor dem zweiten Drittel des 20. Jahrhundert liegen („manche wollen das Wort schon 1939/45 im Zusammenhang mit den Wehrmachtswunschkonzerten gehört haben“). Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, dessen einschlägiger Teilband (Lexikographen sprechen von „Lieferung“) 1896 erschien, fehlt der Eintrag Schnulze.
Für ein Wort dieses geringen Alters mag es verwunderlich scheinen, dass die Herkunft ungeklärt ist. Vermutet wird ein Bezug zum niederdeutschen snulten (›gefühlvoll daherreden‹) oder auch zu niederdeutsch snulle bzw. schnulle (›nett, lieb, süß‹).
Schnulze gilt als „umgangssprachlich abwertend“, so der große Duden, der die Wortbedeutung folgendermaßen angibt: a) ›künstlerisch wertloses, sentimentales, rührseliges, kitschiges Lied oder Musikstück‹ (eine billige Schnulze; Schnulzen singen oder spielen) und b) ›künstlerisch wertloses, sentimentales, rührseliges, kitschiges Theaterstück, Fernsehspiel o. Ä.‹: „die Schnulzen mit Maria Schell“ (Hörzu 43, 1971).
Im Duden findet man neben Schnulze auch noch die Wortbildungen schnulzen (›schnulzig singen, schnulzige Musik spielen‹), schnulzig und Schnulzensänger bzw. Schnulzensängerin. Das Spezialwörterbuch zur Umgangssprache, der bereits zitierte „Küpper“, bietet demgegenüber zwei ganze Seiten mit Wortbildungen. Hier einige der schönsten: Schnulzenküche bedeutet ›Schallplattenfabrik‹, Schnulzenorgel ›Musiktruhe‹ oder ›Plattenspieler‹, Schnulzenseele ›Hang zu Rührseligkeit‹, Schnulzentum ›Gesamtheit (Tätigkeit) derer, die rührselig-problemlose Machwerke (Literatur, Musik, Film) herstellen, vortragen und schwärmerisch aufnehmen‹. Besonders reichhaltig sind die Ausdrücke für Personen, die Schnulzen singen: Schnulzengurgler, Schnulzenheini, Schnulzenjauler, Schnulzenjodler, Schnulzenplärrer, Schnulzenreißer, Schnulzerich, Schnulzian (alle bedeuten laut Küpper ›Schlagersänger‹), Schnulzenhammel (›Schlagersänger, der einen dümmlichen Eindruck macht‹), Schnulzenheld (›sehr beliebter Schlagersänger‹), Schnulzenkönig (›vorübergehend beliebtester Schlagersänger‹) und Schnulzenheuler (›Sänger, der seine Schlagerlieder mehr heult als singt‹).
Da sage noch einer, die deutsche Umganssprache sei nicht feinster semantischer Nuancen fähig! ⋄ Jochen A. Bär
(316) 12. November – Dudelsack
Unsere heutige Kolumne ist den Kindern der Grundschule Rechterfeld gewidmet, die sich das Wort Dudelsack gewünscht haben. Die Schulleiterin Elisabeth Neekamp hatte seinerzeit stolze 40 Vorschläge ihrer Schülerinnen und Schülern eingesandt, von denen wir in unserer Jahr-der-Wörter-Reihe auch schon einige behandelt haben.
Ein Dudelsack ist ein „Blasinstrument mit mehreren Pfeifen, die über einen vom Spieler oder von der Spielerin unterm Arm getragenen, durch ein Mundstück mit Luft gefüllten, ledernen Sack mit Luft versorgt und zum Klingen gebracht werden.“ So steht es im großen Dudenwörterbuch. Ein älteres – in der Alltagssprache heute unübliches – deutsches Wort für den Dudelsack ist Sackpfeife, das die genaue Entsprechung der englischen Bezeichnung bagpipe darstellt. Noch seltener findet sich der Ausdruck Bockpfeife (in Anlehnung daran, dass der Luftsack oft aus Ziegenleder hergestellt wurde).
Nicht im Duden steht, dass der Dudelsack ein Borduninstrument ist. Das bedeutet, dass mehrere der Pfeifen lediglich einen einzigen Ton hervorbringen können, der immerzu erklingt, sobald Luft aus dem Sack durch die Pfeifen gepresst wird. Dadurch entsteht der für dieses Instrument typische Grundton, der eigentlich aus mehreren gleichzeitig erklingenden Tönen besteht und zu dem die Tonart des gespielten Stücks passen muss. Melodien erzeugt man auf dem Dudelsack mittels der so genannten Spielpfeife, die Grifflöcher wie eine Flöte hat.
Da die Töne in den Pfeifen durch ein Rohrblatt (wie beispielsweise bei der Klarinette) oder ein Doppelrohrblatt (wie bei der Oboe oder der Schalmei) erzeugt werden, bringt der Dudelsack den charakteristischen „quäkenden“ Klang hervor, der seinen Namen motiviert. Allerdings handelt es sich bei der Herleitung des Wortes von dudeln (›lange, eintönig-kunstlose Klänge von sich geben; schlecht musizieren‹) um Volksetymologie. Dudelsack kommt von polnisch dudy (›Sackpfeife‹), das seinerseits auf türkisch düdük (›Flöte‹) zurückgehen dürfte. Im 17. Jahrhundert erscheinen die deutschen Bezeichnungen Dudei, Dudelbock (vgl. Bockpfeife), polnischer Bock und Dudelsack, von denen sich das letztere durchgesetzt hat.
Dass das Wort aus dem Polnischen kommt, mag verwundern. Beim Dudelsack denken wir normalerweise sofort an Schottland. Dabei ist das Herkunftsland der Sackpfeifen vermutlich Indien. In hellenistischer Zeit (in den letzten Jahrhunderten vor der Zeitenwende) sind sie in Ägypten belegt. Kaiser Nero soll im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als Dudelsackspieler hervorgetreten sein. Im Mittelalter kannte man Sackpfeifen in ganz Europa, auch in Deutschland. Und eben in Polen. ⋄ Jochen A. Bär
(317) 13. November – Vertiko
Unser heutiges Wort wurde von Lieselotte Fischer aus Steinfeld vorgeschlagen. Es bedeutet, wie vermutlich allgemein bekannt: ›kleiner Schrank mit zwei Türen, der oben mit einer Schublade und einem Aufsatz abschließt‹. Er soll nach seinem ersten Verfertiger, dem Tischler Otto Vertikow in Berlin benannt sein, der um 1860 solche Zierschränke baute. Sie waren in der Gründerzeit sehr beliebt, galten aber offenbar schon bald als eher kleinbürgerliches Möbel. Man nutzte es gern, um darauf kleine Ziergegenstände (neudeutsch: „Dekokram“) zu plazieren. Im zweibändigen Kleinen Konversations-Lexikon von Brockhaus aus dem Jahr 1911 liest man ausdrücklich, es handle sich bei einem Vertiko um ein „kleines, schrankartiges Möbel mit oberm Aufsatz für Nippsachen“. In dem lyrischen Zyklus Phantasus von Arno Holz (erschienen 1898/99) heißt es: „auf meinem Vertiko, | zwischen zwei Sträussen aus Zittergras, | paradiert eine blanke mit bunten Blumen bemalte Porzellankuh“. Und bei Alfred Henschke, besser bekannt unter dem Pseudonym Klabund, heißt es im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs: „Es wird nie wieder Friede sein. Der Kopf | Des Todes grinst auf allen Vertikos. | In Bronze. Gips. Als Bierkrug. Suppentopf.“
Dass der Zusammenhang mit dem Namen des Tischlers Otto Vertikow wahrscheinlich ist, erkennt man nicht nur daran, dass das heute meist sächliche Wort (das Vertiko) anfangs eher als Maskulinum (der Vertiko) gebraucht wurde, sondern auch daran, dass man es zunächst in der Regel Vertikow schrieb. „Er hatte sich nicht wieder an den Vertikow gestellt, sondern auf einem Sessel Platz genommen“, schreibt Friedrich Spielhagen in seinem Roman Zum Zeitvertreib (1897). Und in der Autobiographie der Kellnerin Mieze Biedenbach (erschienen 1906 in Berlin) liest man über einen ihrer Stammgäste: „eigentlich ist nichts Absonderliches an ihm, er ist im Gegenteil eine ganz gewöhnliche Durchschnittsnatur, eine kleine, gute, etwas ängstliche Seele. Seine sogenannten Ideale kommen mir vor wie Galanteriewaren, Nippes, billige Nachahmungen aus wertlosem Material, wie sich die kleinen Leute sie stolz auf ihre Vertikows und Kommoden in der guten Stube pflanzen und sich dann ungeheuer viel auf ihren künstlerischen Geschmack einbilden.“
Das Wort Vertiko ist nicht zu verwechseln mit Vertigo, dem medizinischen Fachausdruck für ein Schwindelgefühl, den man vermutlich vor allem aus dem gleichnamigen Film von Alfred Hitchcock (mit James Stewart und Kim Novak) von 1958 kennt. ⋄ Jochen A. Bär
(318) 14. November – Eigenbrötler
Das Wort Eigenbrötler habe ich als Kind und Jugendlicher oft zu hören bekommen. Ich hatte andere Interessen als meine Klassenkameraden, hielt mich daher in der Regel eher abseits und wurde daher für merkwürdig gehalten – für anders. Heute würde man so was wie mich wahrscheinlich einen Nerd nennen.
Das Wort Eigenbrötler, für unsere Reihe vorgeschlagen von Andreas Bosbach, bezeichnete in einigen südwestdeutschen Mundarten ursprünglich einen Junggesellen – auch Hagestolz genannt –, der sein eigenes Brot backt. Heute steht es, oft abwertend, für einen Menschen, „der sich absondert, seine Angelegenheiten für sich allein und auf seine Weise erledigt und andern in seinem Verhalten merkwürdig erscheint“. Diese Erläuterung findet sich im großen Dudenwörterbuch.
Etwas Ähnliches wie Eigenbrötler bedeutet Sonderling (Duden: „jemand, der sich von der Gesellschaft absondert und durch sein sonderbares, von der Norm stark abweichendes Wesen auffällt“). Hier steht aber der Aspekt der Merkwürdigkeit stärker im Vordergrund, während bei Eigenbrötler – ebenso wie bei Einzelgänger – mehr die Eigenwilligkeit betont wird. Es ist also ein Unterschied in der Perspektive: Eigenbrötler und Einzelgänger kennzeichnen einen Menschen als das, was er selbst sein will, Sonderling hingegen als das, was er aus der Sicht der anderen ist.
Eigenbrötler werden in der Regel mit spöttischem Kopfschütteln bedacht. So schreibt Arthur Schnitzler in seiner Autobiographie Jugend in Wien: „Mit all meiner Poeterei war ich keineswegs ein verträumter oder eigenbrötlerischer Knabe, vielmehr, trotz gelegentlicher Zerstreutheit, recht aufgeweckt und von geselligen Neigungen.“
Dass Eigenbrötlerei auch zu Ausgrenzung und Unterdrückung führen kann, zeigt der Germanist Georg Witkowski in seinen Lebenserinnerungen: „Wer klug war, fügte sich der geltenden akademischen Sitte auch in der Art und Wahl seiner Lehrtätigkeit; denn Eigenbrötler erregten Aufsehen und machten sich für künftige Beförderungen und Berufungen Schwierigkeiten. Um ihnen aus dem Wege zu gehen, war es außerdem rätlich, keine Themata zu wählen und keine Meinung zu äußern, die den allmächtigen Ordinarien unliebsam zu Ohren kommen konnten; oft genug waren solche Frevel durch die Verurteilung zum ewigen Privatdozenten gestraft worden.“
Die allmächtigen Ordinarien („Professoren erster Klasse“) gibt es zum Glück nicht mehr; es gibt nur noch – schlimm genug – Dauerstellen gegenüber befristeten Stellen und unterschiedliche Gehaltsstufen. Dass Qualität, nicht Konformismus erfolgreich ist: das ist bis heute der Glücksfall geblieben. ⋄ Jochen A. Bär
(319) 15. November – taff
Die Arbeitsstelle für Sprachauskunft und Sprachberatung der Universität Vechta wird immer wieder mit interessanten Fragen konfrontiert. Eine davon betrifft unser heutiges Wort: „Neulich las ich, dass Regina Abelt, die deutsche Frau des ehemaligen äthiopischen Präsidenten Negasso Gidada, eine taffe Entwicklungshelferin sei. Sie ist tüchtig, couragiert, engagiert – wir haben schon ein paar Fremdwörter dafür. Die eindeutschende Schreibweise taff für englisch tough finde ich interessant. Was halten Sie davon?“
Die Antwort: Ganz so groß wie gemeinhin angenommen ist der englische Einfluss auf das Deutsche nicht. Das Adjektiv taff ist nicht, wie immer wieder vermutet wird, eine eindeutschende Schreibung des englischen tough, sondern kommt von jiddisch toff, das wiederum auf hebräisch tôv (›gut‹) zurückgeht. Dem Großen Wörterbuch der deutschen Sprache des Dudenverlags zufolge gehört taff zur saloppen Stilebene; es hat die Bedeutung ›hart, robust‹.
Erstaunlich: So steht es in der dritten Auflage dieses Wörterbuchs aus dem Jahr 1999. Die nicht mehr als Buch, sondern nur noch als DVD erhältliche vierte Auflage von 2012 verweist von taff nur noch auf tough und impliziert damit, es handle sich um dasselbe Wort und tough sei die empfohlene Schreibweise. Sic transit gloria mundi – so gehen sprachwissenschaftliche Erkenntnisse verloren. Ein Glück, dass es das „Jahr der Wörter“ gibt, wo wir die Fahne hochhalten können.
Ein Glück, dass ... heißt auf hebräisch bzw. jiddisch Mazeltov! (›Gut, dass ...!‹, ›Viel Glück!‹, ›Viel Erfolg!‹). Darin steckt unser Wort ebenfalls. Das jiddische Massel, abgeleitet vom hebräischen mazzal (›Stern; Schicksal‹) steht umgangssprachlich für ›unverdientes, unerwartetes Glück‹; demgegenüber bedeutet Schlamassel ›Unglück, Schwierigkeiten‹, und etwas vermasseln heißt so viel wie ›kein Glück, keinen Erfolg haben‹.
In der deutschen Gegenwartssprache ist taff durchaus verankert: „Ein ganz patentes, taffes Mädchen, das genau weiß, was es will“ (Nürnberger Nachrichten, 22. 3. 2013) oder „die taffe Kollegin eckt gerne an, macht ihr Ding“ (Mannheimer Morgen, 3. 5. 2013). Auffällig ist, dass taff als Eigenschaft offenbar insbesondere Frauen zugeschrieben wird – so auch in der Filmkomödie Taffe Mädels (im Original: The Heat) mit Sandra Bullock aus dem Jahr 2013.
Auch ein Boulevard-Magazin, das montags bis freitags im Privatsender ProSieben läuft, heißt taff. Hier liegt allerdings ein Wortspiel vor, denn es handelt sich gar nicht um unser Wort, sondern dieses klingt gewissermaßen nur an. Der Titel taff ist ein Akronym (ein „Anfangsbuchstaben-Kurzwort“: Er steht für täglich, aktuell, frisch, frech. ⋄ Jochen A. Bär
(320) 16. November – Entschleunigung
Unter entschleunigen versteht man dies: ›eine (sich bisher ständig beschleunigende) Entwicklung, eine Tätigkeit o. Ä. gezielt verlangsamen‹. Das zugrunde liegende Wort schleunig ›schnell, eilig; unverzüglich‹ geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel mit der Bedeutung ›(sich) schnell drehen‹, das auch den deutschen Wörtern nähen und Schnur zugrunde liegt.
In der Literatur findet man den Hinweis, dass das Substantiv Entschleunigung erstmals 1979 von dem Autor Jürgen vom Scheidt in seinem Buch Singles – Alleinsein als Chance verwendet worden sei.
Der früheste Beleg für das Wort Entschleunigung, den man in den digitalen Archiven des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, den weltweit größten Textsammlungen zur deutschen Gegenwartssprache, finden kann, stammt von 1991. Am 27. Juli dieses Jahres erschien in den Salzburger Nachrichten ein Bericht unter der Überschrift „Entschleunigt“ in das Jahr 2000. Darin heißt es unter anderem: „Kein gutes Haar an den derzeitigen Zuständen im Automobilbau läßt der bayrische Abgeordnete im Europaparlament Dr. Gerd Müller. Der Politiker forderte im Euro-Parlament ein rasches Umdenken im Verkehr. Nicht Beschleunigung, sondern ‚Entschleunigung‘ soll die Devise werden. Müller wörtlich: ‚Die Automobilindustrie sollte Abstand nehmen vom Größenwahnsinn 400 PS starker, 250 km/h schneller und zwei Tonnen schwerer Karossen.‘ [...] Auch an die Adresse der Autofahrer richtete Müller harte Worte: ‚Wenn hypermobile Freizeitexzentriker ihren Mangel an geistiger und körperlicher Beweglichkeit durch die Bewegung ihrer Automobile kompensieren, ist es an der Zeit nachzudenken, ob weniger nicht manchmal eben auch mehr ist.‘“
Auch wenn es hier hauptsächlich um Geschwindigkeit beim Autofahren geht, ist doch der Begriff der Entschleunigung viel weiter gefasst: ›Qualitätssteigerung durch Verlangsamung der Arbeits- oder Verbrauchsprozesse‹. Darunter lassen sich beispielsweise die Slow-Food-Bewegung (eine Gegenbewegung zum uniformen und globalisierten Fastfood, die sich um die Erhaltung regionaler Küche mit heimischen pflanzlichen und tierischen Produkten und deren lokale Produktion bemüht) und die Bewegung Cittàslow (›langsame Stadt‹; italienisch città ›Stadt‹, englisch slow ›langsam‹) mit dem Ziel einer Verbesserung der Lebensqualität in Städten fassen.
Entschleunigung scheint heutzutage ein verbreitetes Bedürfnis zu sein. In 0,36 Sekunden ergibt eine einfache Internet-Recherce 439.000 Belege für das Wort. Für unsere Reihe wurde es unabhängig voneinander gleich zweimal vorgeschlagen: von Lydia Eilhoff aus Lohne und von Thomas Fischer (der seinen Heimatort nicht genannt hat). ⋄ Jochen A. Bär
(321) 17. November – quasseln
Das Niederdeutsche war jahrhundertelang eine eigenständige Rechts-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und auch Kultursprache. Erst seit der frühen Neuzeit erfolgte allmählich eine Überlagerung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche: zunächst in der geschriebenen Sprache. Ämter und Kanzleien (Schreibstuben), Druckereien und andere öffentliche und private Institutionen gingen nach und nach dazu über, das höher angesehene Hochdeutsch (die Variante des Deutschen in den mittleren und südlichen Gebieten) zu schreiben. Gesprochen wurde weiterhin das Niederdeutsche; erst lange Zeit später wurde Hochdeutsch auch zum Medium der Mündlichkeit, und bis heute gibt es Niederdeutsch („Plattdeutsch“) als gesprochene Sprache, unter anderem im Oldenburger Münsterland. Geschrieben wird Niederdeutsch heute kaum noch. Daran ändern auch die regelmäßig in der OV und anderswo erscheinenden plattdeutschen Kolumnen nichts.
Allerdings ist das Niederdeutsche vom Hochdeutschen nicht spurlos verdrängt worden. Eine beträchtliche Anzahl von niederdeutschen Wörtern wurde in das Hochdeutsche aufgenommen und gilt heute als standardsprachlich. In etlichen Fällen – z. B. bei hibbelig, Pegel, schmuddelig, Schnulze, überkandidelt und etlichen weiteren, die wir in dieser Reihe ebenfalls schon behandelt haben – erkennt man nicht einmal mehr ohne weiteres die dialektale Herkunft.
Auch unser heutiges Wort quasseln (›schwatzen, unaufhörlich und schnell reden‹) gehört in diese Reihe. Es ist eine durch das Wortbildungselement -el(e)n abgeleitete Intensivbildung zu niederdeutsch quassen (›schwatzen‹) bzw. quasen (›fressen, übermäßig essen; plaudern, schwatzen‹), das seinerseits – mit einem regulären Anlautwechsel – zu niederdeutsch dwasen (›Unsinn reden, irre reden, verrückt sein‹) gebildet ist. Verwandt sind Wörter wie dösen, dösig (›schläfrig; schwindelig‹) und Dusel (›Schwindel, Rausch, Glück‹).
Das Wort quasseln hat erst um 1900 ins Hochdeutsche Eingang gefunden, vermutlich über das Berlinerische. Es gehört der umgangssprachlichen Stilebene an und wird oft abwertend gebraucht. Ebenfalls salopp-abschätzigen Charakter haben Zusammensetzungen wie Quasselbude (›Ort, an dem (zu) viel gesprochen wird‹: bisweilen scherzhaft für das Parlament), Quasselfritze und Quasselkopf (jeweils ›männliche Person, die viel Unsinn redet‹) Quasselstrippe und Quasseltante (jeweils ›weibliche Person, die viel Unsinn redet‹ – man kann es aber auch von Männern sagen) und Quasselwasser (in der Wendung Quasselwasser getrunken haben: ›an Logorrhöe leiden, zwanghaft unaufhörlich und schnell reden‹). ⋄ Jochen A. Bär
(322) 18. November – Querkopf
Wieder einmal – wie schon des Öfteren im „Jahr der Wörter“ – stellen wir ein Wort vor, das von Reinhard Sundermann aus Bakum vorgeschlagen wurde. Für alle diejenigen, die demgegenüber bislang nicht zum Zuge gekommen sind, sei in Erinnerung gerufen, dass die Auswahl der Wörter, die wir in dieser Kolumne behandeln, ohne Ansehen des Einsenders oder der Einsenderin von einer achtköpfigen Jury getroffen wurde. Dabei ist es nicht zu vermeiden gewesen, dass manche Personen (oder auch Schulklassen) mehr als einen Treffer gelandet haben, andere hingegen gar keinen. Prinzipiell ist klar: Je mehr Wörter jemand vorgeschlagen hat, desto größer sind rein statistisch gesehen die Chancen, den eigenen Namen an dieser Stelle in der OV zu lesen.
Da es gerade ums Lesen geht – wozu wir diese Woche übrigens noch einmal gesondert kommen werden –: Zu dem heutigen Wort liest man im großen Duden Folgendes: „Querkopf, der (umgangssprachlich, oft abwertend) ›jemand, der in oft eigensinniger Weise anders handelt, sich anders verhält, als von anderen erwartet wird‹“. (Wenn irgendjemand hierin eine Personenbeschreibung des Kolumnisten erkennen sollte, liegt er vermutlich nicht ganz falsch ...)
Das Wort quer ist abgeleitet von einer nicht überlieferten, aber durch Sprachvergleich erschließbaren indoeuropäischen Wurzel terk, trek (›drehen, winden‹), auf die beispielsweise auch altindisch tarkúh und griechisch átraktos (beides bedeutet ›Spindel‹), lateinisch torquere (›drehen, winden, martern‹: daher kommt Tortur ›Marter, Peinigung, Qual‹), schwedisch tvär (›zornig‹) und niederdeutsch dwars (›quer‹, in der Seemannssprache: ›querab‹) zurückgehen. Und auch die deutschen Wörter drehen und drechseln haben den gleichen Ursprung.
Das anlautende tw-, das im Schwedischen und auch im Niederdeutschen (hier als dw-) noch erkennbar ist, zeigt sich bei quer noch in mittelhochdeutscher Zeit: damals hieß das Wort twer(h). Es ist dasselbe Wort, das auch in Zwerchfell steckt. Das alte tw- wurde im Mitteldeutschen seit dem 14. Jahrhundert zu kw- (geschrieben oft als qu-), im obd. stattdessen zu zw-. Beide lautlichen Entwicklungslinien haben unabhängig voneinander die deutsche Schrift- und Hochsprache bereichert.
Der zweite Wortbestandteil Kopf ist, kaum will man es glauben, ein Lehnwort aus dem Lateinischen. Dort bedeutet cuppa so viel wie ›Schale, Schüssel, Trinkgefäß‹, und eben dies bedeutete choph, kopf auch im Alt- und Mittelhochdeutschen zunächst. Erst später wurde das Wort zur Bezeichnung einer bestimmten Schale: der Hirnschale, und dann auch des Schädels im Ganzen. ⋄ Jochen A. Bär
(323) 19. November – bußfertig
Das heutige Wort gehört zu denen, die in den Wörterbüchern als zum Bereich des Religiösen gehörig gekennzeichnet sind. Im Universalduden wird bußfertig definiert als ›reumütig und bereit zur Buße (1 a)‹. Man soll also unter dem Stichwort Buße nachschlagen und dort die unter der Ziffer 1 und dem Buchstaben a) dargelegte Bedeutung des Wortes zur Kenntnis nehmen: ›das Bemühen um die Wiederherstellung eines durch menschliches Versagen gestörten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch‹. Damit hängt Buße (1 b) zusammen: „kath. Kirche“, ›Bußübung‹ (wie in „jemandem eine Buße auferlegen“); im Wahrig wird eine Auswahl solcher Bußen genannt: „Opfer, Fasten, Beten, Wallfahren“. Auf Letzteres geht der zweite Bestandteil des Wortes bußfertig zurück: ›auf der Buß-Fahrt begriffen‹ (vgl. fertig, Kolumne Nr. 266 vom 23. September). Von Buße in diesem zweiten Sinn erklärt sich wohl der Übergang des Wortes in die Rechtssprache, wo es bedeutet: ›Ausgleich, den jemand für eine geringfügige Rechtsverletzung zu zahlen hat‹. Uns kommt als Verkehrsteilnehmern, gelegentlich auch „Verkehrssündern“, natürlich sofort das Bußgeld in den Sinn, über dessen Höhe der Bußgeldbescheid unterrichtet, der sich auf den Bußgeldkatalog stützt. Wer gleich zahlt, braucht sich keinem Bußgeldverfahren zu unterziehen.
Manch einer wird vielleicht den Namen des heutigen Feiertages, den er im Kalender erblicken mag, den Buß- und Bettag, kurz auch Bußtag genannt, mit Buße im Sinn von ›Strafe‹ in Verbindung bringen und sich fragen, wofür denn da eine Strafe verhängt werden soll und worin sie bestehen soll. Und als Katholik wird er diese Frage gern den Evangelischen überlassen, denn es ist deren Feiertag. (In der katholischen Kirche ist jeder Freitag, auf den kein kirchlich vorgeschriebenes Fest fällt, sowie der Aschermittwoch ein Buß-/Bettag.) Unter den Evangelischen wiederum dürfte man wenige finden, die mit dem Namen, geschweige denn dem Inhalt dieses Tages etwas anzufangen wissen oder gar einen Gottesdienst besuchen. Der heutige Mittwoch ist zwar ein kirchlicher Feiertag, aber zugleich in ganz Deutschland ein ganz normaler Arbeitstag – außer in Sachsen, das sich weigerte, der ab 1995 beschlossenen Abschaffung des Feiertages zugunsten der Finanzierung der Pflegeversicherung zuzustimmen (ein katholischer Feiertag wurde seinerzeit übrigens nicht „geopfert“). Zum einheitlichen gesetzlichen Feiertag am Mittwoch vor dem Totensonntag war er, wie in der Wikipedia zu lesen ist, 1934 von den Nationalsozialisten gemacht worden (wurde aber während des Krieges auf einen Sonntag verlegt). In der Bundesrepublik wurde er, zunächst mit Ausnahme Bayerns, als gesetzlicher Feiertag wieder eingeführt und blieb dies, nach der Wiedervereinigung 1990 auch in den beigetretenen Ländern, bis 1994 – in der DDR selbst war er 1966 bei der Einführung der Fünftagewoche abgeschafft worden.
Nach meiner Erinnerung gehörte der Buß- und Bettag, auch als er noch gesetzlicher Feiertag war, nicht zu den großen Festtagen wie Weihnachten oder Ostern. Die Kenntnis der Bedeutung von Buße als ›Umkehr‹ im Sinne des zitierten ›Bemühens um die Wiederherstellung eines durch menschliches Versagen gestörten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch‹ war weitgehend verlorengegangen. Auch wurde gern die scherzhafte Deutung des zweiten Namensbestandteils, Bettag, als ›Tag, an dem man im Bett bleiben kann‹ anstatt von ›Tag, an dem man beten soll‹ vorgetragen. Dies geht seit der Rechtschreibreform von 1996 nicht mehr: Jetzt ist zu unterscheiden zwischen Bettag und Betttag. ⋄ Wilfried Kürschner
(324) 20. November – Kokolores
Der Vorschlag für unser heutiges Wort stammt von der letztjährigen Klasse 8a der Vechtaer Liebfrauenschule. „Weil wir immer so viel Unsinn machen, haben wir andere Ausdrücke dafür gesucht und sind dabei auf dieses Wort gestoßen.“
Die Herkunft des seit dem 17. Jahrhundert bezeugten umgangssprachlichen Ausdrucks für ›Unsinn, Unfug; Getue, Aufheben‹ ist nicht sicher geklärt. „Vermutlich stammt er aus der Tradition, zum Anschein der Gelehrsamkeit pseudo-lateinische Wortformen zu verwenden“, schreibt mein Heidelberger Kollege Jörg Riecke in seiner Neubearbeitung des Etymologie-Dudens (erschienen 2014). Wenn dies zutrifft, so handelt es sich wohl um eine Bildung zu dem französischen Wort coq (›Hahn‹) und könnte ursprünglich so viel bedeutet haben wie ›Gockelei‹, also ›Angeberei, gespreiztes Tun‹, oder auch ›Gegacker‹.
Den Hahn als gefallsüchtig zu charakterisieren, hat eine lange Tradition. Der Gedanke liegt auch dem Adjektiv kokett (›von eitel-selbstgefälligem Wesen; bestrebt, die Aufmerksamkeit anderer zu erregen und zu gefallen‹) zugrunde, das im Französischen – coquet – nichts anderes als eine Ableitung von coq ist und also eigentlich ›hahnenhaft‹ bedeutet.
Coq und auch das gleichbedeutende englische cock, das aus dem Französischen entlehnt wurde, gehen auf das mittellateinische coccus (›Hahn‹) zurück. Dieses Wort ist ein Onomatopoetikon („lautmalerischer, lautnachahmender Ausdruck“): Es ist zu coco gebildet, das ebenso wie die deutschen Wörter gackern und kakeln dem Naturlaut der Hühner nachempfunden ist.
Gleicher Herkunft, da ebenfalls abgeleitet von coq, ist auch das französische Wort cocotte (›Hühnchen‹), das im Französischen zur Bezeichnung für eine Prostituierte gebraucht und im 19. Jahrhundert als Kokotte ins Deutsche entlehnt wurde. Und ebenfalls zu dieser Wortfamilie gehört auch Kokon, der Ausdruck für das Gespinst, mit dem besonders bestimmte Insekten ihre Eier umhüllen bzw. in das sie sich selbst bei der Verpuppung einspinnen. Das Wort geht zurück auf provenzalisch coucon (›Eierschale‹).
Wenn Kokolores tatsächlich eine pseudolateinische Bildung ist und ursprünglich ›Gockelei, Getue, Gewese‹ bedeutet, dann ist es zunächst vermutlich eine Pluralform („Mehrzahlform“) gewesen. Darauf weist die Endung -es, die im Lateinischen bei Wörtern auf -or den Plural anzeigt (doctor ›der Lehrer‹ – doctores ›die Lehrer‹, textor ›der Weber‹ – textores ›die Weber‹ usw.). Im neueren Deutschen ist das Wort aber ein Singularetantum, das heißt, es kennt nur die Einzahl, nicht die Mehrzahl: der Kokolores, so teilt der große Duden mit. ⋄ Jochen A. Bär
(325) 21. November – Vorlesung
Von demjenigen, was unser heutiges Wort bedeutet, sollte ein Professor etwas verstehen: Immerhin war es traditionell das Vorrecht der Professorenschaft, Vorlesungen halten zu dürfen. Dazu bedurfte es einer besonderen Legitimation: der so genannten Venia legendi (wörtlich: ›Erlaubnis zu lesen‹), die von einer Fakultät – der Gesamtheit aller Professoren eines bestimmten Fachbereichs an einer Universität – erteilt wurde. Vielfach war diese Venia, wie sie im Fachjargon kurz genannt wird, unmittelbar verknüpft mit der Habilitation (dem Nachweis der Lehrbefähigung); an manchen Universitäten musste sie nach der Habilitation aber auch gesondert beantragt werden.
Heute ist die Habilitation nicht mehr der einzige Weg zur Professur; in manchen Fächern und an bestimmten sich für besonders fortschrittlich haltenden Universitäten ist sie faktisch sogar abgeschafft. Habilitationsäquivalente Voraussetzungen sind die erfolgreiche Arbeit im Rahmen einer (zeitlich befristeten) Juniorprofessur oder auch besonders einschlägige Praxiserfahrungen.
Früher galt: Vorlesungen waren dazu da, den Überblick über das große Ganze eines Fachs oder Themengebietes zu geben, und dies war die Aufgabe (und eben das Vorrecht) des Professors oder der Professorin. Heute geht es, weil teilweise mehr als fünfzig Prozent eines Jahrgangs an die Universität drängen, oft gar nicht anders, als dass auch wissenschaftliche Mitarbeiter Übungen und Seminare in Form von Vorlesungen abhalten. Wirklich aus einem Manuskript vorgelesen wird in Vorlesungen aber kaum noch. Eher wird der Stoff in freier Rede vorgetragen.
Sprachlich interessant: Die Tätigkeit des Vorlesung-Haltens heißt fachsprachlich nicht vorlesen, sondern einfach nur lesen: Ich lese dieses Semesters Geschichte der Sprachtheorie (oder auch über Geschichte der Sprachtheorie), will sagen, wie gesagt: ich referiere frei und zeige dazu ein paar Folien. Demgegenüber nennt man es, wenn jemand öffentlich aus eigenen oder fremden Werken vorliest, gerade nicht Vorlesung, sondern einfach nur Lesung.
Heute ist bundesweiter Vorlesetag. Überall finden Aktionen statt, um die Kinder für Bücher und das Lesen zu begeistern. Die Grundschule Rechterfeld, die seinerzeit beim Preisausschreiben zum „Jahr der Wörter“ einen Besuch in der Universitätsbibliothek Vechta gewonnen hatte, hat die Universität zum Gegenbesuch eingeladen. Kollegen aus dem Fach Designpädagogik, Mitarbeiterinnen der Universitätsbibliothek und Studierende haben dafür ein buntes Programm rund um das Medium Buch erarbeitet. Auch ich selbst werde den Kindern etwas vorlesen. Wer aufmerksam diese Kolumne gelesen hat, weiß: Es wird trotzdem keine Vorlesung. ⋄ Jochen A. Bär
(326) 22. November – schnöde
Dr. Sigrid Heisings Vorschlag schnöde erinnert mich an meine Kindheit. Genauer gesagt an eine Märchenschallplatte mit Wilhelm Hauffs Zwerg Nase. Wir erinnern uns: Der Held, ein Junge namens Jakob, wird von einer bösen Hexe, die er verspottet hat, in einen Traum versetzt, in dem er glaubt, ein Eichhörnchen zu sein, das sieben Jahre lang die hohe Kochkunst lernt. Beim Erwachen: „Da lag er auf dem Sofa des alten Weibes und blickte verwundert umher. ‚Nein, wie man aber so lebhaft träumen kann!‘ sprach er zu sich; ‚hätte ich jetzt doch schwören wollen, daß ich ein schnödes Eichhörnchen, ein Kamerade von Meerschweinen und anderem Ungeziefer, dabei aber ein großer Koch geworden sei. Wie wird die Mutter lachen, wenn ich ihr alles erzähle!‘“
Ein schnödes Eichhörnchen! Wenn es das nur gewesen wäre. Jakob findet sich nach seinem Erwachen verzaubert zu einem hässlichen Zwerg mit einer langen Nase: der aber immer noch ein großer Koch ist, als solcher Karriere am Hof des Herzogs macht und nach mancherlei Abenteuern, weil er ein gutherziger, liebenswerter Kerl ist und nicht nur an sich denkt, am Ende erlöst wird. Mal wieder nachlesen: Weltliteratur!
Und das schnöde Eichhörnchen? Das Eichhörnchen haben wir bereits in unserer Kolumne Nr. 86 (17. März) behandelt. Das Wort schnöde heißt ursprünglich so viel wie ›verächtlich, erbärmlich, gering‹. Im Mittelniederdeutschen bedeutet snood(e) ›schlecht, elend‹, im Mittelniederländischen ›niederträchtig, verrucht‹. Die Grundbedeutung ist wohl ›geschoren‹: Das Wort bezieht sich zunächst auf Pelze, deren Behaarung nicht besonders dicht ist.
Von der Bedeutung ›dürftig, armselig‹ aus entsteht bereits im Mittelalter die Bedeutung ›niedrig, verächtlich, elend, hässlich‹ sowie ›vom sittlichen Standpunkt aus verwerflich, verdammenswert‹. Bei dem Dichter Michel Beheim im 15. Jahrhundert heißt mit schnödem kaufe so viel wie ›mit üblem Handel‹. Heute kennt man das Wort vor allem noch in einigen Redewendungen, beispielsweise dem schnöden Mammon oder dem schnöden Undank. Man gibt die Bedeutung wohl am ehesten mit ›nichtswürdig‹ an. Wer an Formulierungen wie schnöde Beleidigung oder jemanden schnöde behandeln denkt, könnte auch eine Bedeutung wie ›arrogant‹ oder ›abschätzig‹ vermuten; das ist aber mit schnöde genau genommen nicht gemeint – oder nur dort, wo ein Verhalten dieser Art zugleich als verachtenswert gekennzeichnet werden soll. Nimm das, schnödes Gesindel! ⋄ Jochen A. Bär
(327) 23. November – Losung
Etymologie, die Lehre von der Wortherkunft, bringt oftmals unerwartete Zusammenhänge zwischen einzelnen Wörtern zutage. Das haben wir in dieser Kolumne schon verschiedentlich vor Augen geführt. Etymologie kann aber auch zeigen, dass zwischen Wörtern, bei denen man Verwandtschaft vermuten würde, überhaupt kein Zusammenhang besteht. So wie bei unserem heutigen Wort. Losung, so dächte man, kommt von los(e). Das stimmt auch – und doch auch wieder nicht.
Wie das sein kann? Ganz einfach: Wir haben es wieder einmal mit Homonymie zu tun, allgemeinsprachlich auch Ausdrucksgleichheit genannt. Denn es gibt zwei verschiedene Wörter Losung. Das erste, das man im Sinne von ›Leitwort, Parole, Wahlspruch‹ kennt, hat mit dem Adjektiv los(e) nichts zu tun. Vielmehr kommt es von Los (›Zettel oder sonstiger Gegenstand, durch den eine Zufallsentscheidung herbeigeführt werden soll‹, auch ›Lotterieschein‹) und losen (›einen Zufallsentscheid herbeiführen, das Los entscheiden lassen‹). Diesen Wörtern liegt das althochdeutsche hlioz (›Orakel‹) bzw. hliozan (›wahrsagen, zaubern‹) zugrunde. Das Losen diente ursprünglich der Schicksalsbefragung, wurde dann bei den Germanen auch zur Rechtsprechung eingesetzt und schließlich ganz allgemein dazu, eine Zufallsentscheidung zu treffen – beispielsweise beim Glücksspiel. Das italienische Wort lotto ist eine Entlehnung aus dem Französischen lot (›Los‹) und geht auf das Germanische zurück. Wenn wir heute Lotto spielen, so verwenden wir dabei also ein rückentlehntes Wort. Die Losung – das Motto, der Leitspruch – ist oftmals durch Zufallsentscheid aus einem Text, zum Beispiel aus der Bibel, ausgesucht worden.
Losung im zweiten Sinne (›Kot von Wildtieren‹), ein jägersprachliches Fachwort, hat nichts mit dem Los zu tun, dafür aber eben mit los(e). Losung ist hier ›dasjenige, was sich löst‹, also dasjenige, was ein Tier ›ablässt‹. Hier liegt eine indoeuropäische Wurzel leu- (›abscheiden, abschälen, abreißen‹) zugrunde, die auch in verlieren, Verlust, Verlies sowie löschen (›ausladen‹: Ladung löschen) steckt.
Mit der Homonymie der beiden Wörter Losung spielte sehr intelligent ein kleiner Junge bei einer katholischen Jugendfreizeit. Dort musste jeden Tag ein anderes Kind aus der Bibel eine Losung finden: „Heute kommt die Losung von Psalm 23,1“, „heute kommt die Losung von Markus 6,50“ usw. Der Schlingel, als die Reihe an ihm war, warf ein paar Knödelchen auf den Tisch und sagte: „Heute kommt die Losung vom Hasen.“ ⋄ Jochen A. Bär
(328) 24. November – Eidechse
Was haben Eichhörnchen und Eidechsen gemeinsam? Nicht viel, außer dass beides Tiere sind. Was haben die Wörter Eichhörnchen und Eidechse gemeinsam? Beide Tiernamen sind im 19. Jahrhundert in der biologischen Fachsprache als Basis für eine Kategorialbezeichnung genutzt worden: Eichhörnchen für Hörnchen – so nennt man die Familie der eichhörnchenähnlichen Nager: vgl. unsere Kolumne Eichhörnchen (Nr. 86 vom 27. März) –, Eidechse für Echse (die zoologische Sammelbezeichnung für eine Unterordnung der Reptilien oder Kriechtiere). Und: Weder steckt in Eichhörnchen tatsächlich das Wort Hörnchen, noch in Eidechse ein Wort Echse: Letzteres ist vielmehr erst durch die falsche Abtrennung des Zweitgliedes von Eidechse entstanden.
Die westgermanische Tierbezeichnung, die im Althochdeutschen als egidehsa, im Mittelhochdeutschen als egedehse oder (zusammengezogen) als eidehse erscheint, geht in ihrem ersten Bestandteil egi- oder agi- vermutlich zurück auf ein indoeuropäisches Wort mit der Bedeutung ›Schlange‹, das sich noch in dem althochdeutschen Wort unc findet (vgl. unsere Kolumne 115 zu Engerling vom 25. April). Der zweite Bestandteil könnte mittelhochdeutsch dehse (›Spindel‹) sein. Es wäre also sprachhistorisch korrekter gewesen, die Unterordnung der Kriechtiere nicht Echsen zu nennen, sondern Dechsen – aber Zoologen sind eben nun mal keine Sprachwissenschaftler, und außerdem geht es in der wissenschaftlichen Terminologie sowieso nicht um sprachliche Richtigkeit, sondern darum, präzise, eindeutige Ausdrücke zu verwenden, mit denen man Missverständnisse ausschließen kann. Das können ohne weiteres auch reine Phantasiewörter sein: Hauptsache, sie setzen sich allgemein durch und erfüllen ihren Zweck in der fachinternen Kommunikation.
Wie sehr sich das Wort Echse mittlerweile nicht nur in der Fachsprache der Zoologie, sondern auch in der Allgemeinsprache durchgesetzt hat, zeigt ein Blick in das große Dudenwörterbuch. Unser heutiges Wort Eidechse wird darin folgendermaßen erklärt: „sehr flinke, Wärme liebende kleine Echse von grüner bis brauner Färbung, die ihren meist über körperlangen Schwanz zur Ablenkung eines Verfolgers abwerfen kann.“
Also wird aus heutiger Sicht nicht Echse als Verallgemeinerung von Eidechse verstanden, sondern umgekehrt erscheint die Eidechse als eine spezielle Art Echse. So verändert sich Sprache. ⋄ Jochen A. Bär
(329) 25. November – Dübel
Was einem im Laufe eines Lebens so alles an Wissen über Sprache zuteil wird! Nicht nur dass man mindestens eine Sprache lernt – man weiß auch noch dies und das von ihr oder von einzelnen ihrer Bestandteile, zum Beispiel von Wörtern. Aber nur in den seltensten Fällen deshalb, weil man sich im Rahmen eines Studiums damit beschäftigt oder weil man, wie die treue OV-Leserschaft, das Glück hat, ein Jahr lang jeden Tag Informationen über ein bestimmtes Wort geliefert zu bekommen. Nein, in der Regel lernen wir das, was wir im Alltag so lernen, ganz unbewusst, und nur in den seltensten Fällen können wir hinterher noch sagen, wann und wo wir es aufgeschnappt haben.
Manchmal können wir es aber doch sagen – so wie ich im Falle unseres heutigen Wortes. Mir erzählte, als ich sieben war, ein Freund meines Vaters, ein Handwerker, dem ich dabei zusehen durfte, wie er ein Regal an der Wand befestigte: „Weißt du, warum das Ding Dübel heißt? Dübel ist eine andere Form von Teufel, und wenn das Ding in der Wand ist, dann sitzt es wie der Teufel.“
Schön wär’s, kann ich da nur sagen. Erstens war es ein Altbau, mit Wänden aus Sandmörtel zwischen den Steinen, so dass der arme Mann dreimal bohren musste, ehe er eine Stelle fand, wo sein Dübel „wie der Teufel“ sitzen konnte. Und zweitens – das wusste ich damals freilich noch nicht, sondern lernte es erst viele Jahre später während meines Studiums – hat das Wort Dübel (›Pflock, Zapfen, mit dessen Hilfe Schrauben, Nägel, Haken u. a. in einer Wand oder Decke fest verankert werden können‹ oder auch ›Verbindungselement zum Zusammenhalten von Bauteilen‹) mit dem Wort Teufel (niederdeutsch: Düwel) nicht das Geringste zu tun. Vielmehr geht es zurück auf ein Wort, das schon im Althochdeutschen (als tubil) und Mittelhochdeutschen (als tübel) bekannt war, und das ›Fuge‹ sowie ›Zapfen, Pflock, Keil‹ bedeutete. Es ist dasselbe Wort, das beispielsweise im englischen to dub und im ostfriesischen dubben (beides bedeutet ›stoßen‹) begegnet. Und auch das altenglische dubbian (›zum Ritter schlagen‹) gehört zu dieser Wortsippe.
Und wieder eine Illusion weniger. Teufel auch! Oder, um Thomas Manns Roman Buddenbrooks zu zitieren: „Je, den Düwel ook“. Offenbar sollte man in Sachen Sprache dann doch lieber den Experten fragen. Handwerker, Zahnärzte oder Wirtschaftsstatistiker haben nun mal andere Kenntnisse. Man geht ja auch nicht mit Zahnweh zum Klempner, nur weil der eine große Zange sein Eigen nennt. Und man lässt auch den Sprachwissenschaftler aus gutem Grund lieber nicht rechnen. Den Dübel traut man ihm, wenn er nicht zwei völlig linke Hände hat, freilich noch zu. Aber Achtung bei Altbauwohnungen! ⋄ Jochen A. Bär
(330) 26. November – Griesgram
Ein Griesgram ist – wer hätte das vermutet – ein „griesgrämiger Mensch“. So steht es im großen Duden. Allerdings muss man ob dieser Null-Information nicht gleich selbst griesgrämig werden, sondern nur den im Alphabet unmittelbar folgenden Wörterbucheintrag zu Rate ziehen: Dort erfährt man dann: griesgrämig und seine beiden seltenen Varianten griesgrämisch und griesgrämlich (im 15. Jahrhundert auch noch grisgramig) bedeuten ›ohne ersichtlichen Grund schlecht gelaunt, unfreundlich, mürrisch und dadurch eine Atmosphäre der Freudlosigkeit und Unlust um sich verbreitend; verdrossen‹.
Das althochdeutsche Wort grisgramon bedeutete ›mit den Zähnen knirschen; murren, brummen‹; der erste Bestandteil gehört zur Wortfamilie von grieseln (›erschauern‹) und grausen (›Schauder hervorrufen oder empfinden‹), der zweite zur Wortfamilie von Grimm (›Zorn‹) und gram (›wütend, auf jemanden böse‹). Zunächst bedeutete Griesgram ›üble Laune‹, erst seit dem 18. Jahrhundert auch die Person, die solche Laune üblicherweise hat.
Das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung kennt Griesgram nicht, durchaus jedoch das heute ausgestorbene Verb („Zeitwort“) griesgramen (Adelung schreibt griesgrammen) in der Bedeutung „vor Grimm mit den Zähnen knirschen, oder seinen Zorn und Unwillen durch Murren oder Verzerrung der Gesichtszüge an den Tag legen“.
Im 19. Jahrhundert ist Griesgram nicht mehr selten. Über seinen Zeitgenossen Johann Heinrich Voß, einen streitbaren Gelehrten, der immer für eine literarische Fehde gut war, schrieb Goethe 1809 an seinen Freund Carl Ludwig von Knebel, der mit Voß einen Disput hatte: „Nach meiner Art und Weise die Sache zu sehen, hätte ich dir immer gerathen wie bisher zu schweigen; da du dich aber einmal geäußert hast, so wünsche ich nur, daß dir daraus kein neuer Verdruß entstehe: denn ich fürchte, der haberechtische Griesgram läßt dir's nicht so hingehn.“
Zeitgenossen dieser Art sind zeitlos. Es gibt sie, und nicht nur in Gelehrtenkreisen, auch heute noch. Man tut also gut, sich den wundervollen Ausdruck haberechtischer Griesgram gut zu merken: Wir begegnen sicherlich bald wieder mal jemandem, auf den er passt.
Auf keinen Fall zu den Griesgramen – so der Plural – gehört Judith Peltz, die Leiterin des Akademischen Auslandsamtes der Universität Vechta. Sie hat zwar das Wort Griesgram für das Jahr der Wörter vorgeschlagen, ist selbst aber das Gegenteil davon: eine freundliche und stets hilfsbereite Kollegin, die Ansprechpartnerin für alle organisatorischen Fragen internationaler Kontakte in Forschung und Lehre. ⋄ Jochen A. Bär
(331) 27. November – Muße
Wer Muße hat, diese Kolumne zu lesen und sich auch noch klar ist, dass es so ist, freut sich sicherlich, dies zu lesen – denn zu wissen, dass man Muße hat, Kolumnen zu lesen, heißt noch lange nicht, dass man weiß, was genau eigentlich Muße heißt. Dazu bräuchte man schon die Muße, ein etymologisches Wörterbuch (Herkunftswörterbuch) zur Hand zu nehmen; und wenn man keines zur Hand hat, dann geht oder fährt man in der Regel nicht in die Bibliothek (obwohl dies immer empfehlenswert ist: vgl. unseren Beitrag Nr. 66 vom 7. März), sondern lässt es eben auf sich beruhen. So viel Muße hat man dann doch wieder nicht.
Damit bei aller Muße die Lektüre dieser Kolumne nicht müßig bleibt (denn Müßiggang ist aller Laster Anfang), sei der unterbleibende Griff zum etymologischen Wörterbuch durch folgende Information kompensiert: Muße – ›freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht; Untätigkeit‹ – ist bereits im Althochdeutschen (als muoza) bekannt. Obgleich es von seiner Bedeutung her dem Gegensatzbereich zuzugehören scheint (Muße zu haben bedeutet ja, dass man nichts tun muss), ist unser Wort eng mit müssen verwandt. Das wird nachvollziehbar, wenn man weiß, dass messen und Mal ebenfalls zur Verwandtschaft gehören. Mal bedeutet ›Punkt‹ (noch erkennbar in Wortbildungen wie Muttermal ›Pigmentfleck‹), auch ›Zeitpunkt‹ (zum Beispiel derjenige, an dem es etwas zu essen gibt; diesen schreibt man, weil der Zusammenhang mit Mal nicht mehr klar ist, dann mit Dehnungs-h, also Mahl) sowie ›Messpunkt‹. Messen bedeutet ursprünglich ›abstecken‹, also ›Punkte setzen‹.
Müssen ist ein altes Präteritopräsens, das heißt ein Verb, von dem nur noch die Vergangenheitsformen vorhanden sind – diese aber haben Gegenwartsbedeutung. Das althochdeutsche ich muoz wäre also am ehesten mit ›ich habe (mir selbst) (zu)gemessen‹ zu übersetzen, also ›ich habe mir etwas zu tun verordnet‹, und wenn man das unter Gegenwartsaspekt betrachtet, ist es ungefähr gleichbedeutend mit ›ich bin genötigt, verpflichtet etwas zu tun‹. Also: ich muss.
Sich selbst etwas zumessen: das kann eine Pflicht oder Aufgabe sein, aber auch Freizeit. Entsprechend ist Muße eine bestimmte Zeitspanne, ein abgemessener Zeitraum, in dem man frei ist von Verpflichtungen. In dem man müßig sein kann. Müßig entwickelt von der Bedeutung ›Muße habend oder gebend‹ im Weiteren die Bedeutungen ›keiner (sinnvollen) Beschäftigung nachgehend, untätig‹ sowie ›überflüssig, vergebens‹ (die Frage ist müßig).
Der Kolumnist kann leider nicht müßig bleiben, sondern muss sich schon gleich wieder dem Wort für morgen zuwenden. ⋄ Jochen A. Bär
(332) 28. November – schusselig
Auch so eines der Wörter, die der Kolumnist des Öfteren zu hören bekommt: schusselig. Gemeint ist (so erklärt es der große Duden): ›(aus einer inneren Unausgeglichenheit, aus einem Mangel an Konzentration heraus) zur Vergesslichkeit neigend und fahrig‹. Ein anderes Wort dafür, das ebenfalls klischeemäßig auf Professoren angewendet wird, ist zerstreut, im respektlosen Jugendjargon wohl auch: verpeilt. (Wohlgemerkt: Wenn wissenschaftlich arbeitende Menschen zerstreut sind, dann in der Regel nicht aus einem Zuwenig, sondern eher aus einem Zuviel an Konzentration: Sie sind derart in ein Problem vergraben, dass sie das, was rings um sie herum vorgeht, nur am Rande wahrnehmen und ihm nicht die Aufmerksamkeit schenken, die ihm nach Meinung anderer gebührt.)
Im Etymologie-Duden sucht man schusselig vergebens, und auch das Substantiv Schussel, von dem es abgeleitet ist. Das Grimm’sche Wörterbuch kennt immerhin das Verb schosseln oder schusseln in der Bedeutung ›gedankenlos, übereifrig hin und her rennen‹. Beide Formen, die mit o und die mit u, sind dem Grimm zufolge gleichwertig; schusseln allerdings „ist weiter verbreitet“.
Für das Substantiv muss man in diesem Wörterbuch unter Schossel nachschlagen: Dort findet man unter der Bedeutung 4: „überlebhafte, gedankenlose Person (eigentlich Person, die einen Schuß [...] hat)“.
Einen Schuss haben sagt man bis heute umgangssprachlich für ›verrückt sein‹. Es bedeutete zunächst wohl ›Neigung für jemanden oder etwas haben‹ (in diesem Zusammenhang kennen wir heute noch in jemanden verschossen sein; die etwas älteren Semester entsinnen sich gewiss einer der Schaumkronen der Neuen deutschen Welle, des 1982 erschienenen Hits Sommersprossen der Band UKW: „Ich bin ja so verschossen in deine Sommersprossen, vom Kopf bis zu den Flossen bist du voll Sommersprossen“). Bei einen Schuss zu jemandem haben (›auf ihn fliegen‹) spielte wohl die Vorstellung des auf seine Beute herabschießenden Vogels eine Rolle.
Wenn man zu etwas eine übertriebene Neigung hat, so lässt dies die Bedeutungsänderung zu ›verrückt sein‹ nachvollziehbar erscheinen: „dän Schoß hann, albern, verrückt sein“, heißt es in Jechts Wörterbuch der Mansfelder Mundart (1888).
Schoss bzw. Schuss wird, so abschließend der Grimm, „dann auch in persönlichem Sinne von einem närrischen oder blödsinnigen Menschen gebraucht“, und mit der Ableitungs-Endung -el ist man dann eben bei Schossel bzw. Schussel, das seinerseits die Grundlage für die Ableitung schusselig bildet.
Vorgeschlagen wurde unser Wort von Dr. Sigrid Heising. Ob sie an eine bestimmte Person dachte, die schusselig ist, hat sie nicht verraten. ⋄ Jochen A. Bär
(333) 29. November – Professorin
Das Wort Professor ist ein im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert bezeugter akademischer Titel, ursprünglich die Amtsbezeichnung für einen habilitierten Wissenschaftler, der einen Lehrstuhl innehat – vgl. unsere Kolumne Vorlesung vom 21. November –, seit langem aber auch ein Ehrentitel, der verdienten Personen in Wissenschaft, Kunst oder anderen Bereichen vom Staat oder einer Universität verliehen werden kann.
Professor leitet sich ab vom lateinischen profiteri (›etwas öffentlich bekennen‹), von dem auch die Profess (das Ablegen eines Ordensgelübdes) kommt. Der Professor ist also ursprünglich derjenige, der sich öffentlich zu einer bestimmten wissenschaftlichen Position bekennt und für diese eintritt: der öffentliche Lehrer. Mit Profit hat profiteri – und also auch Professor – nichts zu tun; in Profit steckt vielmehr das lateinische proficere (›vorankommen; gewinnen‹), ein ganz anderes Wort.
Professorin ist die weibliche Form von Professor. Dieses Wort hat unlängst für Aufsehen gesorgt, weil die Universität Leipzig entschieden hat, in ihrer Grundordnung nicht mehr die männliche Form generisch (das heißt für alle, Männer wie Frauen) zu gebrauchen, sondern die weibliche. Es ist also in diesem Text nur noch von den Professorinnen der Universität die Rede – Männer sind mitgemeint. (Was übrigens natürlich nicht heißt, dass man in Leipzig jetzt „Herr Professorin“ sagen muss oder dass nur noch Professorinnen zu Gremiensitzungen offiziell eingeladen werden: Am sprachlichen Alltag der Universität Leipzig hat sich, wie man hört, überhaupt nichts verändert.)
Professor zu werden, ist heute zunehmend schwierig, weil die Rahmenbedingungen nach so und so vielen Hochschulreformen schlechter sind denn je: Vgl. unsere Kolumnen Nr. 45 (exzellent) vom 14. Februar und Nr. 102 (schnieke) vom 12. April.
Professorin zu werden ist schwieriger, weil Frauen in diesem Lande, allen anderslautenden Behauptungen und allen Gegenmaßnahmen zum Trotz, immer noch benachteiligt sind. Das scheint vor allem ein mentales, ein Sozialisationsproblem zu sein. Bezeichnend ist die Tatsache, dass kaum eine sehr gute Studentin, der eine Doktorarbeit oder eine Stelle angeboten wird, in der ungebrochenen Überzeugung „Das kann ich! Das schaffe ich!“ sofort und uneingeschränkt „Ja“ sagt. Kaum ein vergleichbarer Mann, dem Vergleichbares angeboten wird, reagiert so.
Die heutige Kolumne ist allen Kolleginnen gewidmet, die es geschafft haben. Und allen, die es noch schaffen werden. ⋄ Jochen A. Bär
(334) 30. November – Advent
„Advent, Advent, | ein Lichtlein brennt. | Erst eins, dann zwei, | dann drei, dann vier, | dann steht das Christkind vor der Tür.“ Dieses Liedchen, das die Kinder zuhause gelernt haben oder aus dem Kindergarten oder der Grundschule mitbringen, gibt die gewöhnliche Vorstellung, die sich mit dem Wort Advent verbindet, wieder. Die Zahlen stehen für die vier Adventssonntage, konkret für die Kerzen, die am Adventskranz angezündet werden, bis es endlich so weit ist und „das Christkind vor der Tür“ steht. Das geschieht alle paar Jahre am selben Tag, nämlich dann, wenn der vierte Advent auf den 24. Dezember fällt (das nächste Mal 2017 und dann wieder 2023). Dieser Tag ist kirchlich gesehen zwar noch kein Weihnachtstag (und kein gesetzlicher Feiertag), wird aber zunehmend als Heiligabend den Weihnachtsfesttagen zugeschlagen.
Der Name für die drei bis knapp vier Wochen vor Weihnachten, der zugleich für die einzelnen Sonntage gilt („erster Advent“, zweiter Advent“ ...), geht auf das lateinische Wort adventus zurück, das als Lehnwort ins Deutsche übernommen wurde. Es hat bereits im Mittelhochdeutschen seinen vollen Ausgang abgeschwächt (advente) oder ganz verloren (advent) und damit seine heutige Form erreicht. Die Ausgangsbedeutung des Wortes ist ›Ankunft‹, gemeint ist im christlichen Sinn die ›Ankunft des Herrn‹, also die Geburt Jesu. Theologisch wird sie auch als „erste Ankunft Christi“ gesehen, der die „zweite Ankunft“ folgen wird. Diese zweite Ankunft ist in der Bitte „dein Reich komme“ im Vaterunser gemeint. Den Zusammenhang macht die lateinische Fassung des Gebets deutlich: „adveniat regnum tuum“: adventus (›Ankunft‹) und adveniat (›er/sie/es komme/möge kommen‹) sind unterschiedliche Fassungen derselben Wurzel. Adveniat heißt übrigens auch das Lateinamerika-Hilfswerk der Katholiken in Deutschland (in gewisser Weise das Pendant zur Aktion Brot für die Welt auf evangelischer Seite). Eine weitere Verbindung ergibt sich zur Bezeichnung Adventisten für Angehörige einer der Glaubensgemeinschaften, die an die baldige Wiederkehr Christi glauben.
Dass mit manchen Wörtern viel mehr als kühle lexikologische und etymologische Erwägungen, sondern ganze Gefühlswelten verbunden sein können, wird aus dem Brief deutlich, mit dem die damalige Klasse 4b der Overbergschule Vechta ihren Vorschlag des Wortes Advent begleitete: „Es erinnert uns an die Winterzeit mit Schnee und Spaß und an das kommende Weihnachtsfest, an dem wir die Geburt Jesu feiern und viele Geschenke bekommen. Die Adventszeit ist die Zeit der Heimlichkeiten, in der wir unser Zimmer abschließen und Geschenke basteln, in der wir zusammen mit der Familie Plätzchen backen und verstecken, damit die Weihnachtsmaus sie nicht findet, und in der es nach Weihnachtsgewürzen und Tannenzweigen duftet.“
Mittlerweile gehen die Overberg-Schüler auf weiterführende Schulen und fügen dem Eingangsgedicht vielleicht cool und lässig noch eine weitere Strophe hinzu: „Und wenn die fünfte Kerze brennt, | dann hast du Weihnachten verpennt!“ ⋄ Wilfried Kürschner