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Sozialabbau

  • 1993, Platz 1

Das „‚Kompaktwort‘ für die Langform ‚Abbau sozialer Leistungen‘“ wurde „nicht wegen seiner Häufigkeit“ auf Platz 1 der Jahreswörter für 1993 gewählt – obgleich auch die beachtlich war –, sondern weil es „von einer gesellschaftlichen Brisanz ist, die Millionen von Menschen unmittelbar betrifft“ (Förster 1994, S. 36). Dabei handelt es sich keineswegs um ein neues Wort. „Der gute alte Sozialabbau“, spöttelte die taz (21. 12. 1993): „Der ‚Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, Lohnraub und Sozialabbau [...]‘ hat uns getreulich auf Kundgebungen und Aufmärschen durch die Jahrzehnte begleitet.“ Beispielsweise hatten die Grünen auf einem Parteitag ein Programm „gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau“ verabschiedet (Zeit, 21. 1. 1983).

1993 ließen sich unter Sozialabbau viele Wörter subsumieren, die die öffentliche Diskussion prägten, darunter die Viertagewoche (ohne Lohnausgleich), deren Einführung bei VW drohende Massenentlassungen verhindern sollte, der zweite Arbeitsmarkt, die Frühverrentung (mit 59 Jahren) oder Blockzeiten, d. h. neun Monate Arbeit und drei Monate unbezahlter Urlaub. Außerdem wurde über eine mögliche Minusrunde und Bürgergeld diskutiert. Dass ein Gürtel-enger-Schnallen notwendig sei, um die Sozialleistungen finanzierbar zu halten, darüber bestand Konsens. Immer neue Vorschläge, wie dem Sozialmissbrauch zu steuern sei, kamen auf den Tisch. Dabei fand die Debatte in einem emotional aufgeladenen Klima statt. Man sprach vom Abbau der Sozialschmarotzer, Überversicherung und Abschaffung des Gießkannenprinzips. Sozialabbau wurde zum Killerschlagwort. Politiker wurden als Steigbügelhalter für Sozialabbau beschimpft, oder man warf ihnen kalten Sozialabbau vor, weil sie sich gegen das Krankfeiern wandten oder den Abschied vom Vollkaskostaat forderten. Bundesaußenminister Kinkel kritisierte den Urlaubsfetischismus der Deutschen, Bundeskanzler Kohl schob die Prägung kollektiver Freizeitpark nach.

Die Kür von Sozialabbau zum „Wort des Jahres“ wurde allgemein als Kritik an der Bonner Politik verstanden. Sie sei „nicht gerade ein Lob für die Regierung“, bemerkte ein Moderator des Deutschlandfunks (21. 12. 1993). Die Gegenkritik ließ nicht lange auf sich warten: Der CDU-Politiker Wolfgang Bergsdorf nannte die Wahl einen „Fehlgriff“, immerhin erhöhe sich der Etat des Bundesarbeitsministeriums 1994 um 8,8 % (Wiesbadener Kurier, 3. 1. 1994).

Sozialabbau, gleich ob als befristeter oder undifferenzierter Sozialabbau, war mithin nicht nur ein einfaches Schlagwort, das die Gemüter bewegte und auf den Transparenten hunderttausender Demonstranten auftauchte, sondern auch das Reiz- und Schlüsselwort für eine politisch wichtige Debatte des Jahres 1993.    ⋄    Barbara Glück

 

Förster, Uwe (1994): Deutsch 1993. In: Der Sprachdienst 38, 33–44 u. 85–97.