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Germanistische Sprachwissenschaft

Öffentlichkeitsaktivitäten

Wörter des Jahres


 

 

Superwahljahr

  • 1994, Platz 1

1994 war definitiv ein Superwahljahr: Europawahl, Bundestagswahl, Wahl des Bundespräsidenten, sieben Landtagswahlen und acht Kommunalwahlen. Die wahlberechtigten Schreibfinger der Bundesrepublik waren am Jahresende sicher erleichtert. Dass es höchste Zeit für eine Pause war, lässt auch ein Kalenderblatt mit dem Titel Der Wahlalarm für den Jahresanfang 1995 erahnen: „Noch ein solches Wahljahr und der Arm ist hin“ (vgl. Walther 1995, S. 21).

In der Wortbildung steckt lat. super (›über‹) als Bestimmungswort zu Wahljahr – nicht hingegen Superwahl als Bestimmungswort zu Jahr, wie die Zeit irrtümlich meinte (vgl. Walther 1995, S. 21). Ein Wahlmarathon also, den sich niemand mehr so schnell zurück wünschte. Denn das „Superqualjahr“ (Graswurzelrevolution Nr. 186) begleitete die Wahlbürger tatsächlich das ganze Jahr hindurch, ob im Radio, im Fernsehen, als Titel von Büchern oder Aufsätzen oder am Stammtisch. Deshalb landete Superwahljahr laut einer infas-Umfrage 1994 weit vorne unter den Wörtern, die man nicht mehr hören wollte: 42 Prozent waren davon genervt (Frankfurter Rundschau, 23. 12. 1994).

Man hatte das Überwahljahr samt seiner überflüssigen Propaganda (rote Socken) gründlich über. Doch nicht alle hatten Anlass, das Megawahljahr, wie es auch genannt wurde, negativ zu bewerten – mit Sicherheit jedenfalls nicht jene kunststoffverarbeitende Firma, die über zehntausend Wahlurnen für deutsche Gemeinden hergestellt hatte (Mannheimer Morgen, 14. 10. 1994).

Der häufige Gang zu besagter Urne führte jedoch nicht dazu, dass sich ein intensiver Kontakt zwischen Bürger und politischem Vertreter entwickelte. Im Gegenteil: 45 bzw. 52 Prozent der Wähler gaben an, keinen der Bundestags- bzw. Landtagsabgeordneten zu kennen, die „diesen Wahlkreis, diese Gegend hier vertreten“. Dass sich also auch bei einem „Überangebot“ an Wahlmöglichkeiten das Interesse an Politik bei der Bevölkerung nicht vergrößert (Stichwort Politikverdrossenheit), hat dieses Superwahljahr gezeigt.    ⋄    Sandra Mehrfort


 

 

rote Socken

  • 1994, Platz 10

Als das Superwahljahr 1994 sich zu Ende neigte, konnten laut einer infas-Umfrage (Frankfurter Rundschau, 23. 12. 1994) 35 % der Bundesbürger einen Ausdruck nicht mehr hören: rote Socken. Angefangen hatte es mit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 26. Juni, die zur Bildung einer PDS-tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung geführt hatte (Rot-Grün). Diese Kooperation mit der PDS lieferte dem CDU-Generalsekretär Peter Hintze eine Steilvorlage für die umstrittenste, aber auch bekannteste Wahlaktion der CDU: die Rote-Socken-Kampagne. Ein sprachlich die politischen Fronten des Kalten Krieges restaurierender Lagerwahlkampf setzte ein. Und so hingen sie anfangs, allegorisch mit einer grünen Wäscheklammer befestigt, auf den Plakaten der CDU: „Auf in die Zukunft ... aber nicht auf roten Socken.“ Das Ziel dieser Aktion war es, die SED-Nachfolgepartei mit dem DDR-Schmuddelimage sowie jede Zusammenarbeit mit ihr zu diskreditieren. Doch der Schuss ging nach hinten los. Die CDU-Landesverbände in den neuen Bundesländern ahnten wohl schon, dass die farbliche Bezeichnung dort weitaus weniger negativ besetzt war als beabsichtigt, und verhinderten in ihren Bezirken die Plakatierung. Und in der Tat: Gerade für die PDS wurden die roten Socken, die sie sich umgehend „anzog“, rasch zum identitätsstiftenden Wahlkampfsymbol. Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi bedankte sich und rief 1994 zum „Jahr der roten Socke“ aus. Klein und handgestrickt hingen sie schließlich am Kragen so manches PDS-Sympathisanten; die beabsichtigte Wahl zum „Unwort des Jahres“ hingegen fand nicht statt, weil die Unwortjury sich nicht für politische Propaganda instrumentalisieren lassen wollte (vgl. Schlosser 2003, S. 70).

Die abfällig-spöttische Bezeichnung Socke für einen Menschen (meist in Verbindung mit einem Adjektivattribut, z. B. faule Socke) gehört in den Bereich der Umgangssprache, die sich bekanntlich verschiedenster Kleidungsmetaphern (Geizkragen, Schlafmütze, Stinkstiefel ...) bedient. Unklar ist jedoch, ob diesem Ausdruck tatsächlich das lateinische soccus ›flacher (Filz-)Schuh‹ zugrunde liegt, oder ob es aus dem Umkreis des jiddischen Wortes Gesocks (›Gesindel‹) stammt.

Die Charakterisierung von Menschen durch das (politische) Farbadjektiv rot ist seit dem 19. Jahrhundert belegt. In Verbindung mit Socke war dieser Ausdruck in der DDR als Bezeichnung eines „Hundertfuffzigprozentige[n]“ seit Mitte der achtziger Jahre üblich, für die alten Bundesländer jedoch nach der Wende von 1989 völlig neu. Der Wahlkampf 1994 jedenfalls wurde bunt, denn das sprachliche Bildungsmuster wurde Vorbild für so manche farbige Socke.    ⋄    Cornelia Scheele