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Germanistische Sprachwissenschaft

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Das alte Europa

  • 2003, Platz 1

Wer auf den Reformstreit, die Agenda 2010 oder das Mautdesaster gesetzt hatte, sah sich getäuscht: Die Gesellschaft für deutsche Sprache dachte in weltpolitischen Dimensionen und thematisierte mit ihrer Wort-Wahl 2003 eine neue Qualität der transatlantischen Beziehungen: amerikanischen Frust über europäisches Selbstbewusstsein.

„Amerika, du hast es besser / Als unser Continent, das alte“, dichtete Goethe bereits 1827. Das „alte Europa“ wird dabei dem „neuen Amerika“, die „alte“ der „neuen Welt“ gegenübergestellt. Ganz anders meinte es US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, als er im Januar 2003 seinem Ärger darüber Luft machte, dass sich Deutschland und Frankreich konsequent weigerten, dem von den USA geplanten Präventivschlag gegen den „Schurkenstaat“ Irak zuzustimmen. Es gebe ein „Problem“ mit den beiden Verbündeten, so Rumsfeld, und: Sie seien Vertreter des eigenwilligen „alten Europa“, während kriegsbereite Länder wie Spanien und Polen aus seiner Sicht das „neue Europa“ (will sagen: das amerikatreue) repräsentierten.

Der Protest kam prompt. Nicht die Tatsache, dass man als altersschwach geschmäht worden sei, wecke Widerspruch, schrieb die FAZ (24. 1. 2003), sondern dass die Amerikaner in der Kriegsunwilligkeit nur Starrsinn sähen: „Das ‚alte Europa‘ besteht aus den Erfahrungen unzähliger Generationen, die ohne Ausnahme Erfahrungen des Krieges gewesen sind.“ Dementsprechend hielt es die Vizepräsidentin des deutschen Bundestages Antje Vollmer für möglich, dass der Ausdruck das alte Europa „eines Tages der Inbegriff einer neuen Identität von internationaler Verantwortung werden“ könnte (Tagesspiegel, 26. 1. 2003).

Wie bereits 1990 (die neuen Bundesländer) und 2001 (der 11. September) wurde eine Substantivgruppe, bestehend aus einem Substantiv mit bestimmtem Artikel und einfachem Adjektivattribut zu dem „Wort des Jahres“ gekürt. Dies war nur möglich, indem man einen weit gefassten Wortbegriff zugrunde legte, nach dem auch eine aus mehreren Einzelwörtern bestehende sprachliche Äußerung Wort genannt werden kann. Dieser Begriff ist sogar der ursprüngliche, denn einzelne Wörter voneinander unterscheiden zu können, setzt grammatisches Bewusstsein und dieses wiederum die Erfindung der Schrift voraus. In vorschriftlicher Zeit hingegen hörte man nur zusammenhängende Worte, wie heute noch in bestimmten Redewendungen (ein klares Wort sprechen, jemandem sein Wort geben usw.) deutlich wird.

Mit ihrer Wahl brachte also die GfdS nicht nur ein neues Thema der Weltpolitik, sondern auch ein altes Wortverständnis zu Bewusstsein. Sie machte damit klar, dass die moderne Sprache ebensowenig wie eine neue Weltordnung ohne die historische Dimension auskommt.    ⋄    Jochen A. Bär


 

 

Agenda 2010

  • 2003, Platz 2

Der Regierungserklärung, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 vor dem Bundestag abgab, war ein langes Vorspiel in den Medien vorausgegangen: „Selten ist eine Regierungserklärung mit so viel Spannung erwartet worden“ (Spiegel, 10. 3. 2003). Einen „Befreiungsschlag“ (Welt, 7. 3. 2003), ein „nationales Großereignis“ (taz, 15. 3. 2003) hatte man bevorstehen sehen, doch nach dem 14. März herrschte Enttäuschung. „War das alles?“, fragte Bild (15. 3. 2003), und die taz (15. 3. 2003) zog ein nüchternes Fazit: „Länge: 90 Minuten. Historisch? Eher nein. Innovationsschub: gering (zwei neue Begriffe: ‚Agenda 2010‘, ‚Vermachtung‘).“ Das Adjektiv vermachtet, das Schröder zweimal im Sinne von ›durch verschiedene Mächte bestimmt‹ verwendet hatte, wurde später kaum noch aufgegriffen – ganz im Gegensatz zur Agenda 2010.

Diese Bezeichnung setzt sich aus dem lateinischen Wort agenda (›Dinge, die betrieben werden müssen‹) und der Jahreszahl 2010 zusammen, die (von der Bundestagswahl 2002 an gerechnet) für den Ablauf zweier Legislaturperioden steht. Pluralformen sind selten belegt – es versuchten sich die taz (10. 11. 2003) mit Agenden 2010 und die Junge Welt (24. 4. 2004) mit Agendas 2010. Ihre sprachlichen Vorgängerinnen findet die Agenda 2010 in der Agenda 21 der Vereinten Nationen und der Agenda 2000 der Europäischen Union. Durch die Aussprache der Jahreszahl verlieh Schröder seiner Agenda ebenfalls eine internationale Note: „‚Agenda 2010‘ – sprich zwanzig zehn – das klingt nach UNO-Resolution, nach Weltpolitik“, assoziierte das Hamburger Abendblatt (16. 4. 2003). Man fühlte sich an die viel zitierte UNO-Resolution „Vierzehn-Einundvierzig“ erinnert, die den Irak zur Kooperation mit den Waffeninspektoren aufforderte.

Zunächst wurde der Ausdruck Agenda 2010 nur zögerlich aufgenommen. In den ersten Reaktionen der Zeitungen tauchte er selten oder überhaupt nicht auf, wurde mit Anführungszeichen und unbestimmtem Artikel versehen („Schröder legt eine ‚Agenda 2010‘ vor“, FAZ, 15. 3. 2003). Zunehmend fielen dann die Anführungszeichen fort und es stand der bestimmte Artikel. Agenda 2010 war zu einem zentralen Ausdruck geworden und bezeichnete das gesamte in der Regierungserklärung vorgestellte Programm.

Für die Gegner der Reform, die Agenda-Kritiker (taz, 30. 4. 2004), wurde sie zum Hauptgegenstand der Kritik an der Regierung: Die Gewerkschaften lehnten Agenda-Schröder (taz, 7. 5. 2003) und die Agenda-2010-SPD (Zeit, 8. 5. 2003) ab. Die PDS legte eine alternative Agenda Sozial vor, der Vorstandsvorsitzende der Landesbank Rheinland Pfalz, Klaus G. Adam, forderte eine Agenda 2003 (FAZ 15.3.04), der Hamburger Ex-Bürgermeister Henning Voscherau eine Agenda 2020 (WamS, 25. 5. 2003).

Der Reformstreit (Wort des Jahres 2003, 3. Platz) war in vollem Gange, und so kam es, dass die Süddeutsche Zeitung (13. 3. 2004) ein Jahr nach Schröders Regierungserklärung ganz im Gegensatz zu den ersten Medien-Reaktionen bilanzieren konnte, sie sei „die wohl wichtigste Rede seiner Amtszeit“ gewesen.    ⋄    Jana Tereick