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Stresstest

(2011, Platz 1)

Das Wort des Jahres 2011, nur scheinbar ein lupenreiner Anglizismus (denn die englische Entspre­chung lautet stress testing) bedeutet, wie im Online-Duden nachzulesen, ›Test, bei dem Reaktionen auf Stress (d. h. erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art) gemessen werden‹ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Stresstest; gesehen: 15. 12. 2011). In der Medizin wird dabei die Leistungsfähigkeit des Patienten bei körperlicher Anstrengung gemessen; in der Informatik versteht man unter einem Stresstest einen Versuch, der erproben soll, ob ein EDV-System auch unter hoher Belastung, beispielsweise bei einer großen Anzahl gleichzeitiger Nutzerzugriffe, einwandfrei arbeitet; im Finanz­sek­tor wird kontrolliert, ob eine Bank bei unvorhergesehenen Verlusten über genügend Eigenkapital verfügen würde, um wirtschaftlich am Leben zu bleiben. Bei einem Stresstest für Großbanken, der im Sommer 2011 durchgeführt wurde, zeigten sich die deutschen Geldinstitute allesamt weitgehend krisenfest – al­ler­dings wurden wirklich harte Bedingungen, beispielsweise ein Staatsbankrott hoch verschuldeter Euro­länder wie Griechenland, dabei nicht simuliert.

In der Nuklearenergie wird bei einem Stresstest festgestellt, ob ein Kernkraftwerk extremen Umwelt­ein­flüs­sen standhalten kann. Die Ereignisse am 11. März im japanischen Atommeiler Fukushima (Platz 5 der Jahreswörter 2011) zeigten aber, dass die Natur viel gewaltigere Kräfte freisetzen kann, als sie in jedem Krisenszenario bis dahin angenommen worden waren. Nach dem GAU in Fukushima fordete man einen sofortigen europaweiten Stresstest für Kernkraftwerke, der aber eben, so EU-Energiekommissar Oettinger, kein „Stresstest light“ sein dürfe (Hannoversche Allgemeine, 11. 5. 2011). Als Konsequenz aus der Katastrophe in Japan vollzog die deutsche Bundesregierung beinahe von einem Tag auf den anderen eine Wende um 180 Grad und verkündete den Atomausstieg – für die CDU, bisher Partei der Kern­kraft­be­fürworter, eine harte Belastungsprobe (neudeutsch: Stresstest).

Dass das Wort immer häufiger verwendet wurde, blieb nicht unbemerkt. „Neues Wort im Politsprech“, titelte die Nürnberger Zeitung (19. 4. 2011): „Plötzlich ist der ‚Stresstest‘ in aller Munde“. Formulierungen wie Stresstest für die Beziehung, Behörden im Stresstest, finaler Stresstest für müde DFB-Kicker und Ähnliches mehr lassen erkennen, dass das Wort auf dem Wege zur Allerweltsvokabel ist. Für 2011 allein verzeichnet das Mannheimer Institut für Deutsche Sprache, das die weltweit größte digitale Text­samm­lung zur deutschen Gegenwartssprache sein Eigen nennt, mehr als doppelt so viele Stresstest-Belege wie davor in allen Jahren seit 1997 zusammen.

Natürlich musste auch das umstrittene Großbauprojekt Stuttgart 21 seinen Stresstest haben: eine Com­putersimulation über die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs. Doch obwohl der Test nach Ansicht der Bahn bestanden wurde, machten die Wutbürger (Wort des Jahres 2010) in Stuttgart weiter Stress. Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann forderte prompt einen Stresstest II, worauf sich die Bahn allerdings nicht einlassen wollte.

Stresstests allenthalben. Kein Wunder daher, dass „dieses mittlerweile inflationär gebrauchte Wort“ (Mannheimer Morgen, 26. 5. 2011) nicht nur als Wort des Jahres in Betracht kam, sondern bereits Anfang Oktober 2011 häufiger als jedes andere zum Unwort des Jahres vorgeschlagen worden war. (Tatsächlich jedoch fiel die Entscheidung der Unwort-Jury im Januar 2012 auf Döner-Morde.)    ⋄    Jochen A. Bär