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Germanistische Sprachwissenschaft

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Wörter des Jahres

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postfaktisch

  • 2016, Platz 1

Das Magazin Cicero (23. 9. 2016) hatte „so ein Gefühl“: „Fakt ist [...], dass ‚postfaktisch‘ das Wort der Woche ist, vermutlich wird es sogar das Wort des Jahres“. Und tatsächlich wurde postfaktisch von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden zum Wort des Jahres gekürt; aber es wäre auch dann treffend gewesen, wenn die Wahl anders ausgefallen wäre: Denn „genau darum geht’s ja in der postfaktischen Welt, um die Vermischung von Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen und was dabei herauskommt“.

Die Jahreswortwahl richtet das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel. Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen „die da oben“ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der „gefühlten Wahrheit“ führt zum Erfolg.

Viel zitiert wurde eine Erläuterung aus dem Munde der Bundeskanzlerin: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.“ In diesem Sinne ist das Wort, wie Matthias Heine in der Welt (17. 11. 2016) schrieb, „sogar schon in der Witzkultur angekommen. Neulich sagte einer meiner Bekannten über einen Freund, dass dieser sich postfaktisch kleide – er ignoriere die Wahrheiten seines Körpers.“

Postfaktische Politik war beispielsweise der Wahlkampf gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU. Mit zum Teil gezielten Fehlinformationen schürten die Befürworter des Austritts den Unmut in der Bevölkerung, die tatsächlich am 23. Juni 2016 mehrheitlich für den Brexit stimmte. Ein Ergebnis postfaktischer Politik war auch der Triumph von Donald Trump, der mit Diskriminierungen und wahrheitswidrigen Behauptungen wie der Aussage, Barack Obama habe die Terrororganisation „Islamischer Staat“ gegründet, in den USA zum Präsidenten gewählt wurde.

Die Wortbildung postfaktisch könnte auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, da sie, vom Lateinischen wörtlich übersetzt, ›nach-faktisch‹ oder ›nach, hinter den Fakten‹ bedeutet. Eher erwarten könnte man bei der angegebenen Bedeutung des Wortes eine Bildung wie kontrafaktisch (›den Fakten widersprechend, entgegengesetzt‹) oder auch, in griechisch-lateinischer Sprachmischung, antifaktisch. Zugrunde liegt aber, ähnlich wie bei Postmoderne oder Poststrukturalismus, die Vorstellung einer neuen Epoche. Bereits im Jahr 2004 erschien das Buch The Post-Truth Era (›Das Zeitalter nach der Wahrheit‹) von Ralph Keyes, und so versteht sich die Rede vom postfaktischen Zeitalter.

Erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Jahreswörterwahl schaffte es 2016 ein Adjektiv auf Platz 1: Als die GfdS 1971 erstmals eine Auswahl von Jahreswörtern bekannt gab, war aufmüpfig „das“ Wort des Jahres. In allen anderen Jahren seither wurden Substantive oder Substantivgruppen gewählt.

Gewissermaßen zum Fakt geworden war das „Gefühl“, postfaktisch könne Wort des Jahres werden, übrigens schon im November 2016: Die Redaktion des Oxford English Dictionary wählte die englische Entsprechung post truth zu ihrem Jahreswort.    ⋄    Jochen A. Bär


 

 

GrexitBrexit

  • 2015, Platz 3; 2016, Platz 2

Wochenlang beschäftigten sich Politik und Medien in der ersten Hälfte des Jahres 2015 mit der Frage, ob Griechenland aufgrund seiner hohen Staatsverschuldung aus der Eurozone ausscheiden müsse. Hätte nicht ab dem Sommer das Thema Flüchtlinge alles andere überlagert, wäre Grexit ohne Frage auf Platz 1 der Jahreswörter für 2015 gekommen. Diese Wortkreuzung, eine Überblendung von Greek (›griechisch‹) und Exit (›Ausgang, Ausstieg‹), wurde 2011 von dem Volkswirt Ebrahim Rahbari geprägt. Die ersten Belege im Deutschen Referenzkorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, der weltweit größten digitalen Textsammlung zur Gegenwartssprache, finden sich 2012. Gegenüber den Jahren 2012 bis 2014 wuchs die Beleghäufigkeit 2015 sprunghaft auf das Zehnfache an. Grexit wurde zum Vorbild für eine ganze Reihe weiterer Wortbildungen. So fanden sich beispielsweise „Alexit“ als Spekulation über die politische Zukunft des griechischen Ministerpräsident Alexis Tsipras (Focus, 29. 6. 2015) und „Schwexit“ (Süddeutsche Zeitung, 12. 7. 2015: Bastian Schweinsteigers Wechsel von Bayern München zu Manchester United). Tsipras befragte seine Landsleute in einem Referendum, das in den deutschen Medien flugs Greferendum getauft wurde (z. B. Frankfurter Rundschau, 3. 7. 2015). Ein Grexit by Accident, kurz Graccident oder Grexident, wurde nach zähen Verhandlungen gerade noch vermieden; die gefundene Lösung bezeichnete EU-Ratspräsident Donald Tusk im Juli 2015 als Agreekment.

Die Wortkreuzung Brexit (Britain + Exit), mit der spätestens seit 2012 ein möglicher EU-Austritt Großbritanniens bezeichnet worden war, wählte die GfdS-Jury ein Jahr später auf Platz 2. Das Ergebnis des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der EU, das am 23. Juni 2016 stattfand, war ein Triumph postfaktischer Politik. Mit zum Teil gezielten Fehlinformationen schürten die Befürworter des Austritts den Unmut in der Bevölkerung. Ähnlich wie Grexit ein Jahr zuvor stand Brexit 2016 als beherrschender Ausdruck in einer Reihe ähnlicher Wortbildungen. Zum Teil ging es dabei auch wieder um die Frage eines Ausscheidens aus der Eurozone. Der Grexit schien zwar vorerst abgewendet, hingegen wurde immer wieder einmal ein möglicher Spexit (Spanien) oder Itexit (Italien) thematisiert. In der Schweiz gab es einen Parlamentsbeschluss, der die Regierung verpflichtete, ein 1992 eingereichtes, seither aber auf Eis liegendes EU-Beitrittsgesuch offiziell zurückzuziehen: noch ein „Schwexit“ (Blick, 15. 6. 2016) Über einen „Frexit“ (Welt, 26. 6. 2016) wurde für den Fall spekuliert, dass 2017 die Rechtspopulistin Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewänne. Die Frankfurter Rundschau (20. 6. 2016) dachte über einen Schexit (das „Ende der Schengenzone“) nach und spekulierte weiter: „Was [...], wenn die verbalen Spielereien Wirklichkeit würden? Wenn die Niederlande, Dänemark oder Schweden sich aus Europa verabschieden würden – Nexit, Dexit, Swexit, that’s it? War’s das für Europa?“ Selbst Befindlichkeiten in dem traditionell auf seine Unabhängigkeit Wert legenden Freistaat im Südosten spielten bei dem eurapokalyptischen Szenario eine Rolle: „Kommt nach dem Brexit der Bayxit?“ (FAZ, 14. 7. 2016).    ⋄    Jochen A. Bär