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Respektrente

  • 2019, Platz 1

Das Thema Altersarmut beschäftigt die deutsche Sozialpolitik seit vielen Jahren. Obwohl sie jahrzehntelang in die Sozialkassen eingezahlt haben, erhalten viele Menschen nicht genügend Rente, um davon leben zu können: Sie müssen zusätzlich Grundsicherung beantragen. Diese unterscheidet sich der Idee nach vom sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen, das auch als Bürgergeld in der Diskussion steht; sie wird nur gezahlt, wenn kein anderes ausreichendes Einkommen zur Verfügung steht, und ist mit einer Prüfung der tatsächlichen Bedürftigkeit verbunden.

Eben daran entzündete sich 2019 ein Streit in der Großen Koalition. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hatte die Ansicht vertreten, wer 35 Jahre lang gearbeitet habe, müsse im Alter mehr Geld haben als jemand, der nie gearbeitet habe. Sein Vorschlag einer Rente oberhalb der Grundsicherung war mit dem Anspruch einer „Anerkennung der Lebensleistung“ verbunden (Zeit, 6. 2. 2019). Daher war die Renten­anpas­sung pauschal für all diejenigen gedacht, deren Einkommen so gering ist, dass ihre spätere Rente das Existenz­minimum nicht erreichen wird. Dies war dem Koalitionspartner CDU/CSU und auch einigen Opposi­tions­parteien zu teuer: Sie plädierten für die Bedürftigkeitsprüfung, wie sie der Koalitionsvertrag ursprünglich auch vorsah: „Ohne solche Prüfung bekämen auch jene Grundrente, die mit ihrem Partner in einer Villa wohnen und jahrelang nur nebenher gearbeitet haben.“ (Tagesspiegel, 6. 11. 2019.)

Das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach hielt dagegen: „Die Grundrente soll dafür sorgen, dass Menschen, die zu geringen Löhnen gearbeitet haben, im Alter nicht in die Grundsicherung rutschen. Sie steht für Respekt vor der Lebensleistung von Menschen, die lange gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Wir können diese [...] doch nicht zum Sozialamt schicken oder leer ausgehen lassen. Das wäre das Gegenteil von Respekt.“

Schließlich setzte die SPD den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung durch und feierte das als „sozial­poli­ti­schen Meilenstein“ (so die kommissarische Parteivorsitzende Malu Dreyer). Nach zähen Verhandlungen war der Weg frei für eine Grundrente, die um zehn Prozent über der Grundsicherung liegt. Ob es der SPD bei künftigen Wahlen gedankt und ob die Respektrente dabei eine Rolle spielen wird, muss sich zeigen. Immer­hin tritt dieser Ausdruck, der die besondere Fähigkeit der deutschen Sprache vor Augen führt, durch Zusam­men­setzung von Wörtern nahezu unbegrenzt neue Wörter zu bilden, und der durch das binnenalliterierende r, das vierfache e ohne andere Vokale und durch die Betonungsengführung in Silbe zwei und drei lautlich auffällig ist, erkennbar als Hochwertwort auf. Das Substantiv Respekt (›Achtung, Hochachtung, Ansehen‹), das von dem lateinischen Verb respicere abgeleitet ist, wörtlich also mit ›Rücksicht‹ zu übersetzen wäre, versucht eine Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung: Wer bereit ist, anderen Respekt entgegen­zu­brin­gen, insbesondere denen, die sich selbst nicht hinreichend respektiert fühlen, macht sich, so ist anzuneh­men, bei diesen selbst respektabel – oder zumindest wählbar.

Demgegenüber eignet sich das sachlich entsprechende Wort Grundrente mit dem dunklen u und seiner weitaus unaufgeregteren Nebenbedeutung viel weniger zum politischen Kampf- und Werbebegriff. Erst in lautlich passender Umgebung – Mehr Gerechtigkeit durch die Grundrente! (www.spd.de/aktuelles/grundrente, 13. 11. 2019) – wird es so etwas wie sloganfähig.    ⋄    Jochen A. Bär